Grußwort der Präsidentin zu Wertsachen: 75 Jahre Grundgesetz – Unsere Verantwortung für Demokratie und Zusammenhalt

Guten Abend, meine Damen und Herren,
und herzlich willkommen im Landtag von Baden-Württemberg!
Die enorme Resonanz zur heutigen Veranstaltung ist ein unglaublich starkes Zeichen! Danke, dass Sie so zahlreich gekommen sind, um 75 Jahre Grundgesetz, 75 Jahre Bundesrepublik, 75 Jahre Demokratie in diesem Land zu feiern! Ich freue mich sehr, dass heute Abend so viele Schülerinnen und Schüler anwesend sind: Schön, dass Ihr da seid!
Für den Landtag begrüße ich stellvertretend Herrn Fraktionsvorsitzenden Schwarz (Grüne), Herrn Fraktionsvorsitzenden Hagel (CDU), Herrn Fraktionsvorsitzenden Dr. Rülke (FDP/DVP), Frau Abgeordnete Steinhülb-Joos (SPD) sowie Herrn Abgeordneten Lindenschmid (AfD). Für die Landesregierung begrüße ich Frau Ministerin Olschowski, Frau Ministerin Razavi sowie Herrn Minister Hermann. Für die Justiz begrüße ich stellvertretend Herrn Bundesverfassungsrichter Dr. Christ sowie den Präsidenten des Verfassungsgerichtshof Baden-Württemberg Herrn Prof. Graßhof. Für die Kirchen und Religionsgemeinschaften begrüße ich stellvertretend Frau Landesbischöfin Professorin Springhart und Herrn Landesbischof Gohl, sowie für die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg die Vorstandssprecherin Frau Professorin Traub und für die Israelitische Religionsgemeinschaft Baden Frau Althausen.
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Landesbehörden und -einrichtungen, des Konsularischen Korps, der Gewerkschaften, Organisationen und Verbände, der Kommunen sowie der Medien; sehr geehrte Ehrenamtliche, liebe Freundinnen und Freunde der Demokratie: Seien Sie alle herzlich gegrüßt. Vielen Dank, dass Sie alle der Einladung des Landtags gefolgt sind!
Der Landtag feiert das Verfassungsjubiläum unter dem Motto: „Deine Freiheit – mein Respekt“. Für jede und jeden von uns gelten Grundrechte, die auch für das Gegenüber gelten und die wir alle gegenseitig zu wahren haben. Auf die 75-jährige Erfolgsgeschichte unseres Grundgesetzes zurückzuschauen, und zu überlegen, wie wir sie weitererzählen, dazu sind wir heute hier.
Ich bin sehr froh und dankbar, dass wir dafür einen Festredner haben gewinnen können, der für die Demokratieliebe in diesem Land steht wie nur wenige: Ein herzliches Willkommen, sehr geehrter Herr Bundespräsident, lieber Herr Gauck! Es ist dem Landtag von Baden-Württemberg eine große Ehre, Sie heute aus diesem ganz besonderen Anlass hier begrüßen zu können!
Ebenfalls freuen wir uns sehr auf zwei großartige Podiums-Gäste, die uns an ihrer Perspektive auf 75 Jahre Grundgesetz teilhaben lassen: Sehr geehrte Frau Onaran, sehr geehrter Herr Dr. Steinke, schön, dass Sie hier sind!
An dieser Stelle auch ein herzliches Willkommen an unsere Moderatorin Nicole Köster. Ich begrüße und danke dem Bürgermeister der Stadt Heubach Dr. Joy Alemazung, der Influencerin Joy Beck sowie der Schauspielerin Astrid M. Fünderich – warum und wofür, das werden Sie später erfahren.
Ein großes Dankeschön für die wunderbare Einstimmung gilt Noemi Fulli, Irfan Kars und Holger Schlosser, die eigens für diesen Abend das eben erlebte Stück geschrieben haben. Dafür haben sie sich in die Protokolle des Parlamentarischen Rates eingelesen, um uns die Entstehung des Grundgesetzes zu vergegenwärtigen. Der Titel der einmaligen Aufführung lautet: „Provisorium mit Ewigkeitsklausel“. Und ich finde, dieser Titel bringt die einzigartige Geschichte unseres Grundgesetzes auf den Punkt: Es war nicht für die Ewigkeit gedacht. Aber seine Werte und Grundprinzipien machen es zeitlos.
Meine Damen und Herren, als die NS-Diktatur heute vor neunundsiebzig Jahren endete, nachdem sie die Welt in die Hölle von Krieg und Vernichtung gestürzt hatte, lag das Land in Schutt und Asche. Aber inmitten der Trümmer und der Traumata gab es auch Träume: Träume von Freiheit, Gleichheit und Demokratie. Und Träume davon, ein Zuhause aufzubauen. Der Ministerpräsident von NRW, Karl Arnold, eröffnete die Arbeit des Parlamentarischen Rates 1948 in Bonn wie folgt: „Wir beginnen mit dieser Arbeit in der Absicht und dem festen Willen, einen Bau zu errichten, der am Ende ein gutes Haus für alle Deutschen werden soll.“ Carlo Schmid, der nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die Landesverfassung von Baden-Württemberg maßgeblich prägte, nannte die gesamte Bonner Republik einen ‚Notbau‘. Er bezog dies darauf, dass es den Deutschen, die in der sowjetischen Besatzungszone lebten, verwehrt geblieben war, Teil des Geltungsbereiches der Verfassung zu werden. Deshalb der provisorische Titel: Grundgesetz. Lediglich ein Fundament.
Im Laufe der Zeit wurde das Grundgesetz vielfach geändert und angepasst, denken wir an den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, an die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union oder an die Änderungen des Asylrechts, die von großen gesellschaftlichen Debatten und Protesten begleitet waren. Immer gab es innerhalb der letzten 75 Jahre in Deutschland auch Krisen, die die verfassungsmäßige Ordnung herausforderten.
Oft forderten diese Krisen Politik und Justiz, Grundwerte gegeneinander abzuwägen: Wo beginnt die Sicherheit des einen und endet die Freiheit des anderen? Beispiele dafür haben wir bei der Abwehr von Terror und Extremismus erlebt, oder auch bei der Bekämpfung der Pandemie. Trotz aller Herausforderungen aber bin ich überzeugt: das Grundgesetz hat sich bewährt und der Bundesrepublik Deutschland dazu verholfen, zu einer stabilen Demokratie zu werden, „zu einem gleichberechtigten Glied in einem vereinten Europa“, wie es in der Präambel des Grundgesetzes steht.
Sie, lieber Herr Gauck, haben diese Erfolgsgeschichte als ein „Demokratiewunder“ bezeichnet. Und ja, es grenzt an ein menschen-gemachtes Wunder. Unsere Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wir haben sie uns aufgebaut, in langer Kleinst- und Schwerstarbeit, mit vereinter Kraft in West und Ost. Der Bau, den der Parlamentarische Rat Baustein für Baustein, Artikel für Artikel errichtet hat, dieser Bau ist ein gutes Haus geworden!
Ein gutes Haus, für alle, die hier leben und die Hausordnung achten: Ob sie im Geltungsbereich des Grundgesetzes geboren sind oder hier eine Heimat gefunden haben: Menschen, wie meine Eltern und ich, die wir aus Unfreiheit in den Freiheitsraum und Schutz des Grundgesetzes gelangten und darin heimisch geworden sind.
Nie hätten es sich meine Eltern vorstellen können, dass Menschen die Errungenschaften der Demokratie mit Füßen treten, sie verachten, eine Diktatur oder gar einen Gottesstaat auf deutschem Boden fordern könnten. Sie hätten sich nicht vorstellen können, dass es Menschen gibt, die das Grundgesetz und die staatlichen Gewalten in Deutschland nicht akzeptieren oder sogar mit Waffengewalt bekämpfen könnten. Und ich denke, das galt für die Mehrheit der Deutschen: Nichts schien das Fundament der Demokratie wirklich erschüttern zu können. Es schien unvorstellbar, dass Antisemitismus offen auf unseren Straßen ausgetragen wird.
Es war ein Irrtum, zu glauben, dass nicht wieder passieren kann, was nicht wieder passieren darf.
Anfang des Jahres mahnte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz: Die Mehrheit der Gesellschaft habe sich in einem komfortablen Privatleben eingerichtet und nehme nicht wahr, wie ernsthaft die Bedrohungen für unsere Demokratie inzwischen geworden seien.
Diese Bedrohung beginnt mit der Sprache. Denn auch die Verletzung der Menschenwürde beginnt mit der Sprache. Wir sollten die Sprache und die Ankündigungen der Demokratiefeinde deshalb sehr ernst nehmen: Anfeindungen häufen sich. Morddrohungen häufen sich. Gewalttätige Angriffe auf Andersdenkende häufen sich. Wir erleben das dieser Tage bei den Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfern, die tätlich angegriffen werden. Lassen Sie uns an dieser Stelle herzliche Genesungswünsche an den schwerverletzten SPD-Politiker Matthias Ecke senden!
Bei all jenen Angriffen auf die Demokratie ist die Härte des Rechtsstaates gefragt. Es gilt: Alle Demokratiefeinde müssen mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden - egal aus welcher politischen Richtung, egal aus welcher Religion oder Ideologie heraus: Es darf keine Toleranz für Extremismus geben!
Es ist aber auch die klare Haltung und Positionierung aller Demokratinnen und Demokraten in diesem Land gefragt. Denn so, wie das Grundgesetz unsere Menschenwürde achtet und schützt, müssen auch wir das Grundgesetz achten und schützen.
Deshalb wollen wir mit dieser Veranstaltung Mut machen: Mut zum Durchhalten, Dagegenhalten und Zusammenhalten, wenn es darum geht, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen. Jede und jeder von uns kann etwas beitragen, damit sich unser Demokratiewunder bewährt und bewahrt. Ich bin überzeugt: es gibt keinen besseren Verfassungsschutz als mündige Bürgerinnen und Bürger!
Und ich weiß, dass unter Ihnen viele Menschen sind, die sich bereits mit viel Kraft beruflich oder ehrenamtlich engagieren. Dafür danke ich Ihnen. Und hoffe, dass Sie dieser Abend nicht nur festlich stimmt, sondern auch hoffnungsvoll. Und vor allem, dass er Sie bestärkt! Bestärkt, damit wir gemeinsam unser Grundgesetz bewahren: Dieses „Provisorium mit Ewigkeitsklausel“; dieses wunderschöne Haus der Freiheit, der Gleichheit und der Demokratie!