Grußwort der Präsidentin zur Lesung "Wer wir sind" von Lena Gorelik

Meine Damen und Herren,
guten Abend und herzlich willkommen im Landtag von Baden-Württemberg!
„Wir haben keine gemeinsame Muttersprache, meine Kinder und ich.“ Es sind Sätze wie diese, mit denen der Roman „Wer wir sind“ berührt und beeindruckt: Der Roman ist voll von scharfen Beobachtungen und bündigen Formulierungen, die die inneren Widersprüche und die innere Zerrissenheit einer multikulturellen Identität auf den Punkt bringen: die Zerrissenheit zwischen Herkunft und Ankunft. Ich sage „Roman“, und „Roman“ steht auch auf dem Buch, aus dem wir gleich Auszüge hören werden. Aber die Grenze zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Protagonistin und Autorin, diese Grenze ist – oder scheint – hauchdünn. Wohl nur selten war der Begriff „Ich-Erzählerin“ so passend: Die Ich-Erzählerin im Buch heißt Lena, ihre Familie Gorelik. Sie ist erfolgreiche Schriftstellerin und sie erzählt ihre Geschichte auf umwerfende Weise. So wie die Autorin.
Herzlich Willkommen heute Abend, liebe Lena Gorelik!
Ich finde es großartig, dass Sie hier sind! Ihr Vater soll ihnen früher geraten haben, skandinavische Krimis zu schreiben, weil man damit besser Geld verdient – ich bin so froh, dass Sie seinem Rat nicht gefolgt sind! Denn stattdessen gibt es Bücher wie dieses. Ich freue mich sehr, Sie daraus lesen zu hören. An dieser Stelle möchte ich auch Nicole Köster begrüßen. Sie führt heute durch den Abend. Und: Murat Coşkun, der die Lesung musikalisch umrahmt. Ihnen beiden herzlichen Dank! Vielen Dank auch dem Literaturhaus Stuttgart für die Kooperation zu diesem Lesungs- und Gesprächsabend!
Liebe Frau Gorelik,
Ihr Roman ist umso bewegender, wenn man sich beim Lesen vorstellt, wie Ihre Eltern ihn lesen. Sie verarbeiten in „Wer wir sind“ die gemeinsame Ausreise Ihrer russisch-jüdischen Familie von Russland nach Deutschland, von St. Petersburg nach Ludwigsburg, 1992 als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“. Ihre Eltern beschlossen die Flucht vor dem Antisemitismus im postsowjetischen Russland. Sie als Kind wussten kaum mehr als dass es in Richtung Stuttgart gehen soll, und dass es dort Weinberge gibt. Die große Dimension dieser Reise war Ihnen nicht bewusst, natürlich nicht. In Ludwigsburg lebten Sie zu fünft, später – ohne ihren Bruder – zu viert, auf engem Raum in einer Flüchtlingsunterkunft – für anderthalb Jahre. Dort beginnt die Suche nach der eigenen Identität in einer fremden Kultur. Es ist eine Geschichte von Scham, von Einsamkeit und Entwurzelung. Aber es ist auch eine Geschichte von elterlicher Liebe, von Zusammenhalt und vom Wurzelnschlagen. Es ist Ihre ganz persönliche Geschichte, die aber doch exemplarisch steht für viele Biografien hierzulande.
Auch ich habe mich darin wiedergefunden: Meine Eltern sind zwar keine Juden, sondern Aleviten, keine Russen, sondern Kurden. Aber ich erinnere mich beim Lesen Ihres Buches an die Ankunft in Baden-Württemberg, ohne ein Wort deutsch zu sprechen. Ich erinnere mich an die Frage: Wie wird man Teil dieser Gesellschaft? (Nämlich auch über die Sprache.) Und ich dachte beim Lesen wieder daran, dass die Lebensleistung unserer Eltern, der gesamten ersten Generation von sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter mehr Anerkennung verdient!
Den Mut zu haben, alleine und in fremder Umgebung die Grundlagen für ein neues Leben zu legen – obwohl die gute Ausbildung nicht anerkannt wird; sich nicht unterkriegen zu lassen – trotz Diskriminierung und Schikane; alles in die Bildung der Kinder zu investieren; zu verzichten, um uns Kindern mehr zu ermöglichen; Teil der Gesellschaft zu werden, auch wenn die Mehrheitsgesellschaft nur wenig für diese Generation getan hat: Das sollte nicht nur kollektiv erinnert werden, es sollte auch kollektiv gewürdigt werden.
Frau Gorelik,
es freut mich sehr, dass Ihre Mutter heute Abend hier ist. Ich heiße Sie besonders herzlich willkommen im Landtag, sehr geehrte Rita Gorelik! In den Schilderungen des Romans können sich Menschen wiederfinden, die Erfahrungen mit Diskriminierung, Flucht oder Migration gemacht haben. Darüber hinaus widmet sich das Buch Fragen, die uns allen vertraut sind: Was bedeutet Heimat? Was stiftet Identität? Wie stehen wir zu unserer Vergangenheit? Und allem voran: Wer SIND wir? Wer sind überhaupt WIR? Der Titel des Romans lässt offen, wer mit „Wir“ letztlich gemeint ist: ob die Familie Gorelik oder alle, die Ähnliches erlebt haben, die ganze Gesellschaft oder grundsätzlich: wir als Menschen, die sich im Innersten diese Fragen stellen: „Was ist Heimat, was Identität?“
Fragen, die nicht nur persönlich, sondern auch politisch sind. Was uns als Gesellschaft ausmacht und zusammenhält, was wir als Individuen dazu beitragen: Das müssen wir stetig verhandeln. Die Literatur kann dabei helfen, andere Perspektiven einzunehmen und den Blick für die breite Gesellschaft zu schärfen. Das ist die Überschneidung von Prosa und Politik. Der Roman „Wer wir sind“ zum Beispiel lehrt die Lesenden russische Begriffe und die Feinheiten der Mehrsprachigkeit, lehrt sie jüdische Bräuche – wie etwa das Einreißen der Kleider in Trauer. Vor allem aber lehrt er, wie es sich anfühlen kann, in einer Flüchtlingsunterkunft mit Stacheldraht zu wohnen, fremd zu sein in einem Land, eine neue Heimat finden zu müssen und zu finden. Und er richtet den Spiegel auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft, mit neuem Blickwinkel. Romane wie dieser sind eine Lektion in Empathie – besonders, weil sie so nah an der Wirklichkeit spielen. Und weil es nicht immer leicht ist, über Begriffe wie Heimat und Identität zu sprechen. Denn: sie sind vielfältig aufgeladen und stark umkämpft.
Meine Damen und Herren,
der Vielfalt gegenüber stehen die rechtsextremen Deutungen von Heimat und Identität. Fremdenfeinde nutzen diese Begriffe als Waffe. Die rechtsextreme und neonazistische Partei NPD hat sich gerade erst in „Die Heimat“ umbenannt. Eine andere rechtsextreme Organisation spricht von „Identität“ und meint damit „Rasse“. Die Feinde unserer Demokratie verengen Heimat und Identität auf EINEN Glauben, auf EINE Hautfarbe. Sie maßen sich an, darüber bestimmen zu können, wer dazugehört und wer nicht; wer WIR sind und wer DIE sind.
All das beruht auf einem Selbstbild von Nation, das nie gestimmt hat, und einer Vergangenheit, die es nie gab. Verklärung: – auch sie ist ein Thema des Romans – die trügerische, ganz menschliche Sehnsucht nach einem Ursprung in Geborgenheit. Diese Sehnsucht nutzen rechte Kräfte aus, um Stimmung zu machen. Veränderung deuten sie zur Bedrohung um, und alles, was fremd ist, bedrohen sie. Rassistisch und antisemitisch motivierte Verbrechen haben in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen. Unser Rechtsstaat muss hart dagegen vorgehen. Auch sind alle demokratischen Parteien in der Pflicht, die fremdenfeindliche Stimmungsmache nicht zu befördern: sei es durch Begriffe wie „Sozialtourismus“ oder durch Gedankenspiele, das Grundrecht auf Asyl zur Debatte zu stellen. Das ist grob fahrlässig!
Wir als demokratische Gesellschaft müssen uns gegen die Demokratiefeindlichkeit verteidigen. Dazu gehört auch, Begriffe wie Heimat und Identität vor dem Missbrauch zu bewahren. Dazu gehört ebenfalls, unsere Vielfalt anzuerkennen und zu schützen. Wer wir sind als Gesellschaft, darauf gibt es viele mögliche Antworten. Eine davon ist für mich glasklar: Wir sind ein Einwanderungsland. Deutschland ist ein Einwanderungsland, und Baden-Württemberg ist ein Einwanderungsland. Das geht weit über wirtschaftliche Debatten hinaus, von den sogenannten „Gastarbeitern“ bis hin zu „The Länd“. Rund ein Viertel der deutschen und ein Drittel der baden-württembergischen Bevölkerung hat eine Migrationsgeschichte. Jüdisches Leben, muslimisches Leben gehören dazu! Wir sind ein Land, in dem es möglich ist und in dem es möglich sein muss, eine neue Heimat zu finden. Wurzeln zu schlagen. Anzukommen. Besonders, wenn man woanders nicht sicher ist.
Meine Damen und Herren,
unten im Foyer haben Sie vielleicht die Postkarten ausgefüllt mit den Fragen: Was ist für Sie Heimat? Was bedeutet Sprache für Ihre Identität? Ich freue mich auf die Auswertung der vielfältigen Antworten! Zunächst, liebe Lena Gorelik, freuen wir uns aber auf den Witz, die Ehrlichkeit und die Zärtlichkeit Ihrer Ich-Erzählung. Beziehungsweise: Ihrer Wir-Erzählung! Vielen Dank, dass Sie heute hier sind und ein Licht darauf werfen, wer wir sind.