Grußwort der Präsidentin zur Tagung „Wer wir sind. Wer sind wir?“ in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung am 27.4.2022 im Hospitalhof im Stuttgart

Liebe Frau Albrecht,
liebe Frau Boga,
liebe Frau Gorelik,
liebe Frau Köster,
liebe Jugendliche,
liebe Gäste,
Ihnen allen einen guten Abend. Wenn Sie von Beginn der Tagung dabei waren, sind Sie sicher bereits voller Eindrücke. Trotzdem will ich mit einem weiteren Besuchs-Tipp beginnen. Von hier – vom Hospitalhof – bis zum Haus der Geschichte Baden-Württemberg sind es knapp anderthalb Kilometer. Der Weg dorthin lohnt sich. Direkt im Eingangsbereich des Museums stehen Sie vor den Umrissen unseres Landes. Auf dem Boden sehen Sie, wie sich die politische Landkarte vom Vorabend der französischen Revolution bis heute verändert hat. Sie sehen zum Ende des 18. Jahrhunderts einen Flickenteppich. Neben den großen Herzogtümern Baden und Württemberg finden Sie österreichische Gebiete, geistliche Herrschaften, freie Reichsstädte und eine Vielzahl von Kleinststaaten. Die Zeitgenossinnen und -Genossen haben das als Zersplitterung wahrgenommen. Heute wissen wir: Es ist die Grundlage unserer Stärke. Der größte Standortvorteil Baden-Württembergs ist seine Vielfalt.
Wir haben einen großen Reichtum an Bildungseinrichtungen und an Kulturstätten – nicht nur in den Ballungszentren. Die Wirtschaftskraft von Baden-Württemberg speist sich aus den vielen so genannten hidden champions, die sich in Tälern des Schwarzwalds und den Höhen des Allgäus verstecken. All das wurzelt darin, dass die verschiedenen Landstriche unseres Landes eigene Traditionen entwickelt haben, dass Klein- und Kleinststaaten miteinander konkurrierten um die besten Kunstschaffenden, die umtriebigsten Erfinderinnen und Erfinder ihrer Zeit.
Das wirkt bis heute nach. Jeder kann es sehen, der oder die mit offenen Augen durch unser Land reist. Als Landtagspräsidentin bin ich viel unterwegs. Manchmal bin ich am gleichen Tag in unterschiedlichen Landesteilen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie sehr sich die Ortsbilder wandeln, obwohl ich gar nicht so viele Kilometer zurückgelegt habe. Ein Dorf in Südbaden sieht anders aus als ein vergleichbarer Ort auf der Ostalb. Das Lebensgefühl in Oberschwaben ist ein anderes als in der Kurpfalz. Es gibt andere Feste, andere Traditionen und auch die Leute ticken anders. Und das ist auch gut so. Diese Vielfalt ist unsere Stärke. Unser Föderalismus mit starken Ländern, mit starken regionalen Identitäten ist ein einzigartiges Erbe. Und kaum ein anderes Land verkörpert das so stark wie Baden-Württemberg.
Dabei sollten wir uns bewusstmachen, dass diese Stärke eine Folge von Konflikten ist. Vielfalt ist nicht gleichbedeutend mit Harmonie. Im Gegenteil. Dass es zum Beispiel in der Residenzstadt Karlsruhe einzigartige Forschungs- und Kultureinrichtungen gibt, ist eine Folge von Wettbewerb auf Augenhöhe. Die Hauptstadt Stuttgart ist nicht der alleinige und unumstrittene Fixpunkt. Baden-Württemberg ist nicht zentralistisch aufgebaut. Wir sind seit Jahrhunderten eine Gesellschaft der Vielen. Dieses Verständnis von Vielfalt hilft uns, Veränderungen mit einer positiven Grundhaltung zu begegnen – gerade dann, wenn diese Veränderungen mit Konflikten einhergehen. Die Landkarte von Baden-Württemberg ist seit 70 Jahren konstant. Aber das Gesicht unseres Landes hat sich in diesen Jahrzehnten stark verändert. In den kommenden Jahrzehnten wird sich diese Veränderung noch beschleunigen.
Weil wir als Land erfolgreich sind, sind wir attraktiv. Wir sind ein Einwanderungsland. Das gehört zum Fundament unserer Stärke heute. Um Veränderungen bewältigen zu können, braucht es als allererstes ein gesellschaftliches Bewusstsein, das Veränderungen wahr- und aufnimmt. Da gibt es Nachholbedarf. Worauf wir wirtschaftlich heute so stolz sind – auf weltweit gefragte Maschinen oder Autos – das sind Produkte made in Baden-Württemberg und oft auch made by Menschen mit türkischen, italienischen, griechischen oder anderen Wurzeln. Das muss stärker ins öffentliche Bewusstsein. Vielfalt ist eine Grundvoraussetzung, um in einer global vernetzten Welt dauerhaft bestehen zu können.
Debatten um Identität, Zugehörigkeit, Diversität sind aus dieser Perspektive keine Sternchenthemen – sie sind notwendig auch für wirtschaftlichen Erfolg. Streit darüber ist keineswegs nur ein notwendiges Übel. Im Gegenteil: Gesellschaftliche Auseinandersetzungen erzählen uns zugleich Erfolgsgeschichten. Denn manche Konflikte entstehen gerade erst dadurch, dass gelebte Vielfalt in vielerlei Hinsicht schon gelungen ist. Das kann ich als Kind der ersten Einwanderergeneration an meinem eigenen Lebensweg festmachen. Es war das Hauptziel meiner Eltern, ihren Kindern die Chancen zu erarbeiten, die sie selbst in ihrer Kindheit und Jugend nicht hatten. Das ist ihnen und Millionen so genannten Gastarbeiterinnen und -Arbeitern gelungen. Ihre Kinder und Enkel sind angekommen. Das heißt, sie wollen logischerweise auch anerkannt werden – als gleichwertiger und gleichberechtigter Teil der Gesellschaft. Als Baden-Württemberginnen und Baden-Württemberger.
Daraus resultieren Debatten, die es vor 30 Jahren nicht gegeben hätte. Mit Filiz Albrecht sitzt eine prominente Vertreterin von Bosch auf dem Podium. Würde man eine Imagebroschüre des Unternehmens Ende der 80er aus dem Archiv holen, man würde darin vor allem weiße Männer in Anzügen oder Blaumännnern sehen. Zwischendrin mal eine Sekretärin, vielleicht mal ein Mitarbeiter mit Migrationsvordergrund im Bildhintergrund. Das hat damals niemand in Frage gestellt, es war ein Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse.
Heute zeichnet die Bosch-Webseite ein Spiegelbild unserer diversen Gesellschaft. Täte sie es nicht, das Unternehmen müsste sich kritischen Nachfragen stellen. Denjenigen, die Fragen nach sichtbarer Vielfalt und Repräsentanz in unserer Gesellschaft aufwerfen, sollten wir dankbar sein. Ihr Einsatz nützt uns allen: Denn überall da, wo Menschen in gemischten vielfältigen Teams zusammenarbeiten, erzielen sie im Schnitt bessere Ergebnisse als homogene Gruppen.
Vielfältigen Teams gelingt eher einen 360-Grad-Blick auf Herausforderungen sowie auf das Umfeld, in dem sich diese Herausforderungen stellen. Eine internationale Studie hat etwa ausgerechnet, dass Unternehmen, die bei der Besetzung ihres Topmanagements in Sachen Geschlechtergerechtigkeit im oberen Viertel liegen, 15 Prozent mehr Gewinn machen als die Konkurrenz. Unternehmen, die gleichzeitig auch bei der ethnischen Vielfalt vorne liegen, schaffen sogar 35 Prozent mehr Gewinn.
Diese Ergebnisse lassen sich auch auf gesellschaftliche Akteure und Verwaltungen übertragen. Umso hartnäckiger müssen wir uns als Gesellschaft die Frage stellen. Wie schaffen wir es, dass in Unternehmen, in der Politik, in Gewerkschaften, in Verwaltungen Frauen und Männer, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund bei gleicher Qualifikation die gleichen Aufstiegschancen haben? Dazu verpflichtet uns Artikel 3 unseres Grundgesetzes – niemand darf wegen äußerer Merkmale benachteiligt werden.
Das zielt nicht nur auf die Betroffenen. Wer sich in den Institutionen unserer Gesellschaft wiedererkennt, wer sieht, dass die Türen dort allen gleichermaßen offenstehen, die oder der wird sich in unserer Demokratie zu Hause fühlen. Das stärkt unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung als Ganzes. Für gelungene Vielfalt zu arbeiten und zu streiten – das ist anstrengend, es fordert uns. Es testet unsere Bereitschaft, Gewohnheiten in Frage zu stellen. Aber diese Anstrengungen lohnen sich. Gehen wir sie an mit Lust – und im Sinne eines der Väter unseres wunderbaren Grundgesetzes, Theodor Heuss. Er sagte: „Man muss das als gegeben hinnehmen: Demokratie ist nie bequem.”
Ich freue mich auf die Debatte mit Ihnen.
Vielen Dank.