Interview mit Roland Müller und Tim Schleider in der STZ/STN

Geisterspiele ja, Theaterspiele nein?
Was systemrelevant ist, haben wir mittlerweile gelernt, sagt die grüne Landtagspräsidentin Muhterem Aras, aber Applaudieren allein reicht nicht: Nach Corona wünscht sich die ranghöchste Frau im Land eine Stärkung des Care-Bereichs – und der Kultur. Interview Was systemrelevant ist, haben wir mittlerweile gelernt, sagt die Landtagspräsidentin Muhterem Aras. Aber Applaudieren allein reicht nicht: Die ranghöchste Frau im Land fordert eine Stärkung des Care-Bereichs – und eine Gleichbehandlung von Fußball und Kultur.
Frau Aras, als wir uns das letzte Mal trafen, saßen wir zufällig gemeinsam beim Neujahrskonzert des Stuttgarter Staatsorchesters. Hätten wir damals gewusst, was wir heute wissen, hätte uns das die festliche Stimmung vergällt?
Ich befürchte, ja. Insofern bin ich gar nicht unfroh, dass wir noch nichts von der drohenden Gefahr wussten. Wir konnten das wunderbare Konzert mit dem Wiener Programm ungetrübt genießen. Cornelius Meister machte als Dirigent seinem Namen alle Ehre – und zusammen mit meinem Mann bin ich beglückt aus diesem sensationellen Abend gegangen.
Nun ist das öffentliche Kulturleben seit Wochen auf null gefahren. Schmerzt Sie das sehr?
Mich schmerzt das doppelt: als Privatmensch, der auch jenseits von Premieren leidenschaftlich gern Konzerte und Theater, Oper und Ballett besucht, aber auch als politischer Mensch, dem Kunstwerke wichtige Denkanstöße geben. Ich war dreimal in dem Stück „Vögel“ im Schauspiel, immer mit anderen Freunden, mit denen ich dieses Erlebnis teilen wollte. Fragen der Identität, der daraus abgeleiteten Abgrenzungen, Konflikte und Kriege, alles auf dem Fundament fragwürdiger Identitätskonstruktionen: Erkenntnisse, an denen Politiker jahrelang arbeiten müssen, hat diese Inszenierung mithilfe einer spannenden Story auf drei Stunden verdichtet. Eine tolle Horizonterweiterung!
Kunst und Kultur sind kein Luxus für Sie?
Nein, ich begreife sie als Lebensmittel: Ich hungere nach den immer wieder neuen Perspektiven, die Kunst und Kultur mir aufzeigen können. Jetzt in der Corona-Zeit spürt auch die ganze Gesellschaft, welchen Schatz an Kreativität wir in diesen Bereichen haben. Um nochmals Cornelius Meister zu erwähnen: die Balkon-Konzerte, die er zu Anfang der Pandemie initiiert hat, fand ich fantastisch. Das Digitale ersetzt eben niemals das Live-Erlebnis.
Werden denn solch bereichernde Live-Erlebnisse in absehbarer Zeit auch wieder in Theater- und Opernhäusern genehmigt werden?
Eine schwierige Frage. Ich wünsche mir von Herzen, dass die Zahl der Infizierten und Toten weiter signifikant sinkt. Sollte das der Fall sein, können wir auch bei der Lockerung der Schutzmaßnahmen einen Schritt weiter gehen, wobei wir uns immer auf Sicht bewegen müssen. Aus Gesprächen weiß ich, dass Theater schon Öffnungsszenarien in den Schubladen liegen haben, aber Termine lassen sich derzeit trotzdem nicht seriös sagen.
Das ist nachvollziehbar. Dennoch fällt in der laufenden Debatte auf, dass einzelne Gesellschaftsbereiche unterschiedlich gewichtet werden. Die mögliche Eröffnung der Bundesliga ist in aller Munde, offensichtlich ist der Druck der Lobby da enorm, während an die Kultur niemand einen Gedanken verschwendet . . .
Zunächst bin ich froh, dass die Politik auf die Expertise der Virologen hört und dann Entscheidungen trifft. Diese Entscheidungen müssen jeder Lobbyarbeit widerstehen und in jeder Phase für alle plausibel und transparent sein. Selbst als glühender VfB-Fan sage ich deshalb: Sollten wir dem Fußball Geisterspiele ermöglichen, leuchtet es mir nicht ein, weshalb für die Kultur nicht auch geeignete Formate gefunden werden könnten. Eine Ungleichbehandlung fände ich in diesem Fall schwer vermittelbar.
Jüngst hat sich Ihr Kollege auf Bundesebene, Wolfgang Schäuble, in die auch ethisch komplexe Corona- Debatte eingemischt: Dem Schutz des Lebens sei nicht alles andere unterzuordnen, meinte der Bundestagspräsident. Teilen Sie seine Ansicht?
Bei seiner Äußerung bezog sich Schäuble auf Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Auch ich richte mein gesamtes Handeln und Denken an diesem Leitsatz aus, aber in der aktuellen Ausnahmesituation halte ich Artikel 2 mit dem „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ für entscheidender. Diese Norm liefert die Begründung für die massive Beschneidung der Grundrechte, die wir gerade erleben. Aber klar ist für mich als Präsidentin des Landtags auch: Zusammen mit der mündigen Zivilgesellschaft muss das demokratisch gewählte Parlament darauf achten, dass die Einschränkungen zeitlich begrenzt bleiben und ein Ende finden. Versammlungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Freiheit der Religionsausübung: sobald wir die Pandemie eingedämmt haben, müssen diese Rechte wieder in Kraft gesetzt werden.
Auch wenn Sie auf die Existenz des Parlaments hinweisen: Man hat derzeit den Eindruck, dass die Legislative nicht viel zu melden hat. Kretschmann auf allen Kanälen, während das Parlament fast in der Versenkung verschwindet.
Ihr Eindruck stimmt so nicht. Gerade in dieser Woche hat das Landesparlament wieder getagt. Aber auf der Hut müssen wir schon sein, um nicht zu kurz zu kommen, wenn während der Krisenzeit mit Verordnungen regiert wird: Unsere Aufgabe, Regierungshandeln zu kontrollieren, nehmen wir deshalb nach wie vor in aller Strenge wahr. Wir treffen selbstverständlich auch weitreichende Entscheidungen, etwa zur Verwendung der Corona-Gelder, und führen notwendige Debatten, beispielsweise zum Verhältnis zwischen individuellen Freiheitsrechten und kollektiven Schutzinteressen – ein Spannungsverhältnis, das gerade jetzt stets aufs Neue überprüft und austariert werden muss, um irgendwann sicher aus der Krise zu kommen.
Reingekommen in den Krisenmodus sind wir Anfang März ja sehr einmütig . . .
. . . und glücklicherweise auch schnell, weil alle Parlamente mit zügigen Beschlüssen die Exekutive in die Lage versetzt haben, kraftvoll zu handeln . . .
. . . aber bei der Frage, wie wir wieder rauskommen, hört die Einmütigkeit offensichtlich auf. Gibt es jetzt zu viel Streit, wie Angela Merkel mit der „Öffnungsdiskussionsorgie“ nahelegte?
Auch wenn ich die Vorsicht der Kanzlerin zu diesem Zeitpunkt für angemessen halte, schließt das politische Debatten über Öffnungsstrategien ja nicht aus. Dieses Recht steht der Politik und der Gesellschaft zu. Und weitere spannende Debatten folgen ja noch: Mittlerweile wissen wir alle, welche Berufe systemrelevant sind. Wir beklatschen unsere Heldinnen und Helden des Alltags, aber ich wünsche mir auch, dass wir nach der Pandemie darüber reden, wie wir die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und Pflegeheimen spürbar verbessern und die dort gezahlten Gehälter deutlich erhöhen – und was jenseits des klassischen Care-Bereichs überhaupt als systemrelevant einzuschätzen ist. Kunst und Kultur gehören für mich dazu.
Das hören wir gerne, aber wir ahnen auch, dass nach der Pandemie die Kassen leer sein werden. Wird dann nicht als Erstes wieder bei Kunst und Kultur gespart werden, systemrelevant hin oder her?
Diese Diskussionen bleiben vermutlich nicht aus. Ich hoffe trotzdem, dass die Kultur gestärkt aus der Krise hervorgeht, eben weil ihre Abwesenheit während der Corona-Zeit als schmerzhaft empfunden wurde. Der Grundsatzbeschluss zur Sanierung der Stuttgarter Oper sollte jedenfalls nicht gekippt werden.
Was vermissen Sie denn persönlich derzeit am meisten?
Meine Freunde, die Kultur – das jetzt nicht, weil ich mit Ihnen rede – und den Sport. In dieser Reihenfolge. Wobei ich die beiden ersten Punkte miteinander verbinden kann, indem ich mich nach einem Kulturerlebnis mit Freunden austausche. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem dieser lebendige Austausch wieder möglich ist.