22. November 2020

Interview mit Sören Sgries in der Rhein-Neckar-Zeitung

„Sie müssen auch dieses dunkle Kapitel zu ihrer eigenen Geschichte machen“

Heidelberg/Stuttgart. „Für alle Demokratinnen und Demokraten ist die Erinnerung wichtig und notwendig“, sagte Landtagspräsidentin Muhterem Aras bei der Veranstaltung zum Gedenken an die vor 80 Jahren ins französische Internierungslager Gurs deportierten Juden. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte: Sie ist eine Art Leitthema der Amtszeit der 54-jährigen Grünen-Politikerin.

Frau Aras, am vergangenen Sonntag waren Sie in Neckarzimmern anlässlich des 80. Jahrestags der Deportation jüdischer Bürgerinnen und Bürger in das südfranzösische Internierungslager Gurs. Aber auch sonst ist Ihnen die Erinnerungskultur, der Besuch von Gedenkstätten unglaublich wichtig. Warum eigentlich?

Ich war schon immer an Geschichte interessiert. Als ich mich dann als Landtagspräsidentin mehr und mehr mit unserer Verfassung beschäftigte, desto bewusster wurde mir, dass es da einen unmittelbaren Zusammenhang gibt. Wenn wir unsere Verfassung, unsere Werte verstehen und festigen wollen, dann brauchen wir das Wissen über die Vergangenheit. Unser Grundgesetz ist für mich ein in Paragraphen gegossenes „Nie wieder“. Deshalb liegt mir Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit sehr am Herzen.

Vom Rechtsaußen-Flügel des Parlaments wird ja durchaus in Frage gestellt, ob eine Frau, die mit ihrer Familie erst als Zwölfjährige nach Deutschland kam, überhaupt das Recht habe, sich so zu engagieren. Was entgegnen Sie?

Glücklicherweise sind das einzelne Abgeordnete – die weit überwiegende Mehrheit des Parlaments unterstützt meine Arbeit. Es ist ja auch Unsinn: Eine lebendige Erinnerungskultur ist Staatsraison, ist Grundkonsens in unserer Gesellschaft. Es ist meine Aufgabe, genau dafür einzutreten – und das werde ich. Ich werde immer eine klare Kante ziehen, wenn dieser Grundkonsens in Frage gestellt wird.

Die Gesellschaft wandelt sich, es geht für immer mehr nicht mehr um die Verstrickungen der eigenen Eltern und Großeltern. Das ändert doch auch das Erinnern, oder?

Die deutsche Geschichte ist selbstverständlich auch die Geschichte der Kinder und Jugendlichen aus zugewanderten Familien, die hier leben. Sie ist Grundlage unserer Gesellschaft. Deswegen müssen wir auch jungen Menschen, die keinerlei Vorfahren haben, die in irgendeiner Weise mit den Verbrechen der NS-Zeit zu tun hatten, vermitteln, mit welchen Werten wir darauf antworten. Das einigende Band unserer Gesellschaft ist das Grundgesetz, unabhängig von Herkunft, Religion, Familiengeschichte. Das Grundgesetz ist auch eine Reaktion auf den Zivilisationsbruch der NS-Zeit.

Die Herkunft kann nicht als Ausrede herhalten, dass man sich damit nicht befassen muss?

Nein, natürlich nicht. Ich mache ja viele Schulbesuche - zumindest, solange das noch ging. Da sitzt eine sehr heterogene Gesellschaft in den Klassenzimmern. Aber diese Kinder dürfen sich nicht zurücklehnen und sagen: Was geht mich die Geschichte der Deutschen an? Es ist unser aller Geschichte - schließlich leben diese jungen Menschen ja in der zweiten, dritten Generation im Land. Sie müssen auch dieses dunkle Kapitel der Geschichte zu ihrer eigenen Geschichte machen. Nur dann versteht man die Werte unserer Gesellschaft.

Sie selbst sagen ja, so richtig verstanden, worum es dabei geht, haben auch Sie jetzt erst. Weil der Geschichtsunterricht Sie nicht erreicht hat?

Geschichte und Gemeinschaftskunde waren immer meine Lieblingsfächer. Aber man beschäftigt sich in diesem Amt sehr viel tiefgründiger damit. Es gibt immer wieder neue Perspektiven zu entdecken. Erinnern ist ja nichts Statisches. Man muss immer wieder den Bezug zum Hier und Heute suchen.

Wie könnte das aussehen?

Ich war in diesem Jahr in Schwäbisch Hall, in der KZ-Gedenkstätte Hessental. Dort gab es einen Schulklassenbesuch aus einer Vorbereitungsklasse, also mit Flüchtlingen. Vielen von ihnen kommen aus Kulturen, in denen der Antisemitismus von Kindheit an prägt. Wenn sie nun in Deutschland solche Themen an diesem Erinnerungsort zu diskutieren, kann das dazu führen, dass junge Menschen sich öffnen. In der Gedenkstätte wird ganz stark mit Bildern gearbeitet. Die Opfer bekommen ein Gesicht, das berührt mehr als reine Zahlen. Die Jugendlichen erhielten einen Anstoß, sich zu hinterfragen.

Haben Sie noch ein Beispiel?

Ich war im vergangenen Jahr mit einer Delegation des Landtags in Israel, wir besuchten auch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Da waren antisemitische Gesellschaftsspiele ausgestellt. So banal fängt es ja an, nicht mit Konzentrationslagern, sondern mit der Abwertung und Diskriminierung von Jüdinnen und Juden im Alltag. Solche Beispiele bleiben in Erinnerung und können junge Menschen packen - auch wenn wir bald keine Zeitzeugen mehr haben.

Muss auch der Geschichtsunterricht breiter aufgestellt werden, sich auch dem Blick auf die Herkunftsländer der Jugendlichen im Klassenraum öffnen? In Baden-Württemberg haben immerhin 30 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund.

Mit Bezug auf die Verbrechen des NS-Terrors ist es schon wichtig, dass man den Geschichtsunterricht auch globaler sieht. In Stuttgart gibt es den Lern- und Gedenkort „Hotel Silber“, die frühere Gestapo-Zentrale. Dort in der Ausstellung hing eine Karte, die die Vernetzung der NS-Maschinerie in ganz Europa zeigt. Diese europa-, ja weltweiten Auswirkungen des Terrors vergisst man ja leicht. Zumindest in meiner Erinnerung war das im Geschichtsunterricht nicht so verankert. Da waren die Folgen für Deutschland eher im Fokus.

Aktuell beklagen die jüdischen Gemeinden Anfeindungen, formulieren ihre Sorgen. Sehen Sie uns auf dem Weg zurück in diese düsteren Zeiten der Verfolgung?

Diese Ängste sind leider Realität. Man muss sie ernst nehmen. Vor wenigen Jahren hätte ich auch nicht gedacht, dass wir wieder so einen Antisemitismus hier haben werden. Dass Menschen Angst haben müssen, weil sie Jüdin oder Jude sind. Teilweise ist der Antisemitismus selbst in deutschen Parlamenten wieder angekommen. Das haben wir ja auch in Stuttgart erlebt. Es zeigt, dass es keinen Schlussstrich geben kann. Wir müssen unsere Werte verteidigen. Und damit meine ich nicht nur die Politik. Jeder Einzelne muss Zivilcourage zeigen.