13. März 2022

Laudatio der Präsidentin zur Verleihung des außerordentlichen Theodor-Haecker-Preises an Maria Kalesnikava am 13. März 2022

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Klopfer,
sehr geehrte Frau Tatsiana Khomich,
sehr geehrter Herr Dr. Schäfer,
sehr geehrte Frau Lindlohr,
sehr geehrter Herr Fink
sehr geehrte Frau Vitrenko,
sehr geehrte Frau Schädler,
sehr geehrte Frau Straub,
sehr geehrter Herr Drexler,
sehr geehrte Mitglieder des Gemeinderats,
sehr geehrter Herr Grube,
sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine Ehre, die Laudatio auf Maria Kalesnikava zu halten.
„Mir fehlt alles, die Luft, die Sonne, meine Flöte, Briefe, Gespräche … und eine
Duschmöglichkeit. Aber wenn du weißt, warum du lebst, ist es egal, wie.“
Dies schrieb Maria Kalesnikava aus ihrer Untersuchungshaft und ergänzte, sie fühle
„Fürsorge und Liebe von Menschen in Belarus und auf der ganzen Welt. Das gibt
kolossale Unterstützung und Energie“.
„Kolossale Unterstützung“. Das benötigt Maria Kalesnikava heute mehr denn je. Von uns allen.
Mitte Januar 2022 wurde die politische Gefangene Maria Kalesnikava in das
Straflager Gomel gebracht. Verurteilt zu 11 Jahren Haft. In Haft in einem Land,
das als einziges Land mit Eritrea, Syrien, Nordkorea und Russland in der UN-Vollversammlung den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine NICHT verurteilt hat.

Die Entscheidung, Maria Kalesnikava den „Theodor-Haecker-Preis der Stadt
Esslingen am Neckar, den „internationalen Menschenrechtspreis für politischen
Mut“ zu verleihen, fiel vor dem Krieg. Für diese Entscheidung bin ich Ihnen, sehr
geehrter Herr Oberbürgermeister Klopfer, sehr dankbar. Denn wir dürfen nicht
zulassen, dass die Verfolgten von Belarus vergessen werden.
Mit diesem Preis ehren wir heute eine starke und furchtlose Frau. Auch angesichts
des Krieges in der Ukraine steht diese Auszeichnung, steht Maria Kalesnikava,
jedoch für vieles mehr: Sie steht für den Kampf der Menschen für Demokratie,
Freiheit und Frieden, nicht nur in Belarus, sondern auch in der Ukraine und in
Russland - und damit auch in ganz Europa.

Maria Kalesnikava ist Künstlerin und Flötistin, Kulturmanagerin und Social-Media Expertin, Aktivistin, Feministin und Bürgerrechtlerin.
Seit Sommer 2020 ist Maria Kalesnikava vor allem jedoch eines: DAS Gesicht
der friedlichen belarussischen Protestbewegung.
Maria Kalesnikava ist Künstlerin. Und Maria Kalesnikava lebt für die Kunst.
Ihre künstlerischen Wegbegleiterinnen schildern sie als leidenschaftliche Künstlerin.
Maria Kalesnikava ist überzeugt: Kunst braucht experimentellen Freiraum. Keine
Künstlerin, kein Künstler, kann sich in einem System der Unfreiheit und Zensur verwirklichen.

Fast hellsichtig untersuchte sie 2019 mit der Tanz-Performance noVoice-noBody,
welche Gefühle die Erkenntnis von Un-Freiheit in uns auslösen kann. Deshalb
kämpfte sie in ihrer Heimat gemeinsam mit vielen anderen Frauen und Männern
um Meinungsfreiheit und Gerechtigkeit. Ihre Waffen waren und sind: Gewaltlosigkeit,
Respekt und Solidarität.

Wer im Sommer 2020 den Wahlkampf in Belarus, die Inhaftierung der
Oppositionspolitiker und Oppositionspolitikerinnen und die Wahlfälschung verfolgt
hat, sah plötzlich erstaunliche Bilder: In den Straßen und auf den großen Plätzen, in
Minsk und vielen anderen Städten, tanzten und sangen Tausende von Menschen.

Wir sahen überall buntgekleidete, fröhliche Frauen und Mädchen. Frauen und
Mädchen, die sich umarmten und lachten. Und sie hörten drei Frauen aufmerksam
zu: Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kalesnikava.
Alle drei Frauen haben den Stab übernommen von Männern, die ihnen nahestanden,
Männern, die Lukaschenko hatte verhaften lassen. Die Stimmung auf den Straßen
war euphorisch. Die Menschen spürten, dass eine Veränderung möglich ist. Denn, es
geschah Überraschendes: Lukaschenko hatte die Kandidatur
von Swetlana Tichanowskaja zugelassen.

Dies geschah aus seiner Frauenverachtung heraus:
Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm eine Hausfrau, die, so sagte er, „Frikadellen
briet“, gefährlich werden könnte. Doch: er irrte. Er unterschätzte die drei Frauen, die
er verächtlich „Gören“ nannte. Er unterschätzte auch die Wählerinnen und Wähler,
denn diese wählten die Freiheit.
Erinnern wir uns, was dann passierte: Um an der Macht zu bleiben, fälschte
Lukaschenko das Wahlergebnis. Hunderttausende Menschen gingen gegen diesen
massiven Wahlbetrug auf die Straße. Und es sind wieder die Frauen,
die das Bild prägen. Frauen, so unterschiedlich wie das Führungstrio: Frauen
unterschiedlichen Glaubens und Alters Frauen mit unterschiedlichen
Lebensvorstellungen und Lebenswelten. Doch eines eint sie: Sie wollen ein Leben in
Freiheit, ein Leben ohne Repressionen. Sie wollen ein Leben, in dem sie eine Wahl haben.

Meine Damen und Herren, wie ist es Maria Kalesnikava gelungen, die Menschen,
vor allem die Frauen, zu gewinnen? Ich bin überzeugt, es liegt daran, dass sie
Andersdenkende respektiert und solidarisch ist.
Im August 2020 wurde Maria Kalesnikava gefragt, warum sie das Herz als ihr Symbol
gewählt habe. Ihre Antwort war sinngemäß: In Belarus haben die Behörden
26 Jahre lang die Bevölkerung respektlos behandelt, erniedrigt und eingeschüchtert.
Lukaschenko habe gezeigt, dass er sein eigenes Volk hasst.

Jetzt sehe man den Unterschied: wenn Tausende Menschen der Bürgerrechtsbewegung auf der Straße
seien, würde man Umarmungen und Lächeln sehen. Die Menschen bei
Lukaschenkos Versammlungen hätten dagegen nur Wut und Hass in den Gesichtern.
Dieser Protest der Frauen gegen Diskriminierung und Unterdrückung, verblüffte das
Regime Lukaschenkos. Doch die Verblüffung währte nicht lange. Nur wenige Tage
später zeigte der Staat seine Grausamkeit: Die Sicherheitskräfte knüppelten
Männer, Frauen und Kinder nieder. Sie verhafteten Tausende, verletzten Viele und töteten.

Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo mussten ihr Land verlassen. Und
Lukaschenko wollte auch Maria Kalesnikava loswerden. Als sie abgeschoben werden
soll, zerreißt sie ihren Pass. Und sie sagt, ihr Platz sei in Belarus.
Nach Maria Kalesnikavas Verhaftung steigert Lukaschenko die Einschüchterung
der Protestbewegung mit brutalen Methoden: Er lässt Tausende verhaften und
engagierte Menschenrechtsorganisationen liquidieren. Dann schließlich werden alle
Vereine verboten: von der Nachbarschaftshilfe über Sportvereine bis hin zu
Frauenhilfsgruppen. Damit zerstört er das wichtigste Fundament der Demokratie:
eine lebendige Zivilgesellschaft. Bis Anfang dieses Jahres wurden 400 zivile und
kulturelle Vereine aufgelöst. Über 1000 politische Gefangene sitzen in den
Haftanstalten. Sie sind Demütigungen und Folter ausgesetzt.

Meine Damen und Herren, wie können Menschen in einem System der Angst und
Repression stark bleiben? Wie gelingt es Maria Kalesnikava, in einem solchen
System der Angst und Repression stark zu bleiben? Sie hätte Minsk rechtzeitig
verlassen und nach Stuttgart, ihrer zweiten Heimat, zurückkehren können.
Zwölf Jahre lebte sie in Stuttgart. Hier hat sie alte und neue Musik studiert und als
Musikerin und Kulturmanagerin gearbeitet. Hier lernte sie den Bankier und
belarussischen Kultursponsor Viktor Babariko kennen, der sie als Leiterin des
Kulturzentrum OK-16 nach Minsk holte.

Als Viktor Babariko für das Amt des Präsidenten kandidierte, wurde Maria
Kalesnikava seine Kampagnenleiterin. Und als Lukaschenko ihn vor der Wahl 
verhaften ließ, entschied sich Maria Kalesnikava für den Widerstand: Sie schloss sich
der Oppositionskampagne von Swetlana Tichanowskaja an. Aus der Musikerin Maria
Kalesnikava wurde die weltbekannte Oppositionspolitikerin Maria Kalesnikava. Und
sie entschied sich, trotz drohender Verhaftung, in Belarus zu bleiben. In
Untersuchungshaft. Kurz bevor ihr das Urteil verkündet wird, beruhigt sie ihren Vater
mit den Worten: „Ich kann das alles verkraften, ein im Innern freier Mensch kann gar
nicht anders.“

Ist sie deshalb auf die Belastung innerlich so gut vorbereitet? Maria Kalesnikava
bleibt unbeugsam. Sie sagt, dass sie ihre Entscheidung, in Belarus zu bleiben, „kein
bisschen bereut". Maria Kalesnikava schreibt: „Die Gefängnisse sind mit ehrlichen, mutigen Belarussen überfüllt,
die keine Zeit daran verschwenden, aufzugeben, trotz des phänomenalen Drucks.
Mir ist es eine Ehre, mit meinem Volk diesen Weg zur Freiheit und Veränderung
zu gehen. Jeder hat seine Rolle in dieser Geschichte." Aber sie weiß auch um die
wichtige Rolle derjenigen, die im Ausland für die Freiheit in Belarus kämpfen. Denn
die Opposition kann in Belarus nicht mehr öffentlich auftreten.
Umso wichtiger sind Menschen wie Sie, liebe Frau Tatsiana Khomich, Sie geben
Maria Kalesnikava, Ihrer Schwester, und all den anderen politischen Gefangenen
unermüdlich eine Stimme.

Auch Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und viele andere kämpfen im Exil
dafür, dass die Gefangenen ihrer Heimat nicht in Vergessenheit geraten und
Unterstützung erhalten. Mit ihrem Einsatz gegen staatliche Willkür und
Unterdrückung und für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, ist Maria Kalesnikava
nicht nur Vorbild für die Demokratiebewegung in Belarus, sie ist auch Vorbild und
Mahnung für uns. Der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine und die Unterstützung des
Krieges durch Lukaschenko hat uns die Augen geöffnet: Diktatorisch regierte Länder,
wie Syrien, Eritrea, Nordkorea, Belarus und Russland, unterdrücken nicht nur die
eigene Bevölkerung, sondern sie bedrohen letztendlich auch unseren Frieden und
unsere Freiheit.

Meine Damen und Herren, wir hier in Deutschland müssen uns deshalb fragen:
Haben wir die Demokratiebewegungen ausreichend unterstützt? Haben wir den
verbrecherischen autoritären Regimen wirksam Einhalt geboten? Setzen wir uns
genügend für unsere freiheitlichen, europäischen Werte ein? Tun wir genügend,
um die Demokratie gegen diejenigen zu schützen, die sie abschaffen wollen?
In Deutschland und in der EU sowie in Großteilen dieser Welt, sind wir uns aktuell
zum Glück sehr einig. Einig, dass der Angriff auf die Ukraine ein Angriff auf das
Selbstbestimmungsrecht eines Volkes ist. Deswegen sind wir solidarisch,
deswegen verhängen wir schärfste Sanktionen und setzen sie auch um, deswegen
helfen wir, wo wir können. Darauf bin ich sehr stolz.

Wir müssen aber auch bei uns wachsam sein. Wir müssen unsere Freiheit
auch im eigenen Land verteidigen. Frauenfeindliche, antisemitische,
ausländerfeindliche Hetze und Gewalt nehmen in Deutschland, nehmen in ganz
Europa bedrohlich zu. Rechtsextreme Gewalttäter lehnen unsere demokratischen
Gesellschaften ab. Hass, Wut und Gewalt prägen ihre Posts in den sozialen Medien.
Sie bedrohen viele von uns auch in der realen Welt. Hass auf Andersdenkende,
Gewalt gegen Andersdenkende: das sind Kennzeichen autoritärer Gesellschaften.
Sie sind eine Herausforderung für unsere Zivilgesellschaft, die wir engagiert
annehmen müssen. In Belarus haben sich viele Menschen, unter Einsatz ihres
Lebens und ihrer Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt. In
Russland werden Tausende eingesperrt, weil sie gegen Putins Angriffskrieg auf die
Straße gehen. Ihnen drohen bis zu 15 Jahren Lagerhaft. Sie tun es trotzdem und
verdienen damit unseren Respekt und unsere Solidarität.

Wie Lukaschenko in Belarus zerstört auch Putin in Russland die Zivilgesellschaft:
Und die Ukraine wird auch deswegen angegriffen, weil sich dort eine Zivilgesellschaft
formieren konnte, die in den Augen Lukaschenkos und Putins
eine Bedrohung ist. Eine Bedrohung, weil die Ukraine den mündigen Bürger,
die mündige Bürgerin, als Staatsbürgerin ernst nimmt, und unveräußerliche Rechte zugesteht.

In dieser Situation verlassen gerade besonders auch Medien- und Kulturschaffende
Belarus und Russland. Das vor Kurzem verkündete Mediengesetz, mit dem die
Presse- und Meinungsfreiheit in Russland nun endgültig zerstört wird, treibt nun vor
allem Journalistinnen und Journalisten in die Flucht. Die kritische Berichterstattung,
das Fundament jeder demokratischen, freien Gesellschaft, wird in Russland
vernichtet.

Aus diesem Grund setze ich mich massiv dafür ein, dass das Land BadenWürttemberg zügig Schutzprogramme auflegt.
Schutzprogramme für Medien- und Kulturschaffende, die vor Zensur und Todesdrohungen aus Belarus und Russland
fliehen. Schutzprogramme natürlich auch, um aus der Ukraine flüchtenden
Künstlerinnen und Künstlern, Journalistinnen und Journalisten Perspektiven zu
eröffnen, bei uns arbeiten zu können, damit ihre Stimmen weiter gehört werden. Die
Stimmen der Medien- und Kulturschaffenden dürfen durch Gewalt nicht verstummen.
Meine Damen und Herren, wir leben hier in Freiheit. Doch diese Freiheit müssen wir
verteidigen. Ich appelliere deshalb an uns alle: Verteidigen wir unsere Werteordnung,
engagieren wir uns gegen Hass, Gewalt und Menschenfeindlichkeit!

Liebe Freund*innen und Künstlerkolleg*innen von Maria Kalesnikava, seit ihrer
Inhaftierung kämpfen Sie kreativ und engagiert für Marias Freilassung. Danke,
dass Sie alle, dass Esslingen und Stuttgart, dass viele andere Organisationen und
Privatleute Protestaktionen unterstützen.

Dies ist auch eine Verpflichtung für uns Politikerinnen und Politiker. Die Situation für
die Bürgerbewegung in Belarus hat sich dramatisch verschlechtert. Die Grausamkeit
des Staates hat Zuversicht in Verzweiflung verwandelt. Umso wichtiger ist die heutige
Preisverleihung. Der Theodor-Haecker-Preis zeichnet Menschen aus, die sich für
Menschenrechte, für Demokratie und Freiheit, für Frieden und Menschlichkeit einsetzen.

Maria Kalesnikava ist eine mehr als würdige Preisträgerin. Der Preis wird dazu
beitragen, dass ihr Engagement, ihr Kampf und sie selbst nicht in Vergessenheit
geraten.

Liebe Frau Khomich, Sie fordern immer wieder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
ein. Ich bin sicher, die heutige Preisverleihung wird helfen,
dieses Ziel zu erreichen. Ich versichere Ihnen: Die Preisvergabe ist für uns alle
Ansporn. Ansporn auch in Zukunft engagiert für die europäischen Werte
einzustehen. Und ich fordere gemeinsam mit Ihnen allen Alexander Lukaschenko auf:
Lassen Sie Maria Kalesnikava frei!

Sehr geehrte Damen und Herren, ich weiß, dass Maria Kalesnikavas Optimismus
ungebrochen ist. Sie vermisst in der Haft ihre Musik, sie darf auch kein Instrument
spielen. Trotzdem sagt sie: „Ich bereue nichts.“ Und schreibt, sie habe Ideen für
Musik- und Kulturprojekte. Um z. B. aus einer Untersuchungshaftanstalt
einen Kultur-Hub zu machen. Sie schmiedet Zukunftspläne, nicht nur als Politikerin,
sondern auch als Künstlerin.

Sehr geehrte, liebe Maria Kalesnikava, ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen,
dass Sie Ihre künstlerischen, politischen und privaten Pläne bald in Freiheit und
Unversehrtheit verwirklichen können. „Sie sind eine unbeugsame, starke Frau. Eine
starke Stimme für Freiheit und Demokratie. Sie sind ein Vorbild für uns alle.
Wir verneigen uns vor Ihnen.