08. März 2022

Rede der Präsidentin zum Internationalen Frauentag 2022 am 8. März 2022 in Heilbronn

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Mergel,
sehr geehrte Frau Bürgermeisterin Christner,
sehr geehrter Herr Bundestagsabgeordneter Juratovic,
sehr geehrte Frau Regierungspräsidentin Bay,
sehr geehrte Stadträtinnen und Stadträte,
sehr geehrte Frau Payer,
sehr geehrte Damen und Herren!

Ich freue mich hier zu sein!

Vielen Dank an Sie, Herr Oberbürgermeister Mergel und Frau Payer für die Einladung nach Heilbronn zum Internationalen Frauentag 2022.

Noch vor zwei Wochen hätte die Rede, die ich heute halte, völlig anders ausgesehen. Doch nun ist Europa, nein, ist die ganze Welt, in ihren Grundfesten erschüttert. Die Welt- und Friedensordnung - wie wir sie kannten - existiert nicht mehr. Daher habe ich mich entschieden, meine Rede komplett umzustellen!

Die Bilder und Nachrichten, die uns aus der Ukraine erreichen, erschüttern mich, erschüttern uns, persönlich bis ins Mark. Es sind Bilder, die wir in Europa nicht mehr für möglich gehalten hätten. Wir glaubten, Krieg - der in anderen Teilen der Welt grausame Realität und Alltag ist – würde bei uns der Vergangenheit angehören. Wir alle haben geglaubt, Krieg mitten in Europa sei etwas, das wir persönlich zu unseren Lebzeiten nicht erleben würden. Zumindest nicht vor unserer eigenen Haustür. Nun sehen wir Bilder von Zerstörung, Tod, Leid und Flucht mitten in Europa. Bilder, die Erinnerungen an den 2. Weltkrieg wachrufen. Allein die Bombardierung am 4. Dezember 1944 hat 60 Prozent der Stadt Heilbronn zerstört und über 6500 Menschenleben gekostet. 

Diese Erfahrung von vor fast 80 Jahren hat sich in das kollektive Gedächtnis ihrer Stadt eingebrannt und wirkt bis heute nach. Seit Jahrhunderten scheint sich die Geschichte also doch im Kreis zu drehen:
Machtbesessene Herrscher zetteln Kriege an. Sie verfügen über ein Arsenal von Waffen, sie umgeben sich mit Militärstrategen und sie schicken die Männer als Kanonenfutter in den Krieg. Frauen bleiben alleine zurück oder flüchten. Kämpfen ums Überleben, und versuchen, ihre Familie zu schützen und zu versorgen. Die Bilder von der polnisch-ukrainischen Grenze erschüttern uns, zerreißen unser Herz:

Wir sehen Bilder von verzweifelten Frauen, die mit ihren Kindern fliehen und um ihre Männer, Söhne und Brüder bangen. Wie in alle Kriege ziehen in diesen Krieg jedoch auch Frauen. Frauen, die kämpfen und Barrikaden errichten, Medikamente und Nahrung organisieren, den Schrecken fotografieren und dokumentieren. Frauen, die an eine bessere Welt in Freiheit glauben, und im schlimmsten Fall auch dafür sterben werden. 

Meinen Damen und Herren: Die Lage in der Ukraine erscheint aussichtslos. Umso mehr möchte ich all dem Grauen und dem Leid und unserer eigenen Verzagtheit etwas Hoffnungsvolles entgegensetzen. Ich möchte Ihnen Frauen vorstellen, die uns Mut machen. Starke Frauen, die zu Vorreiterinnen und Vorbildern geworden sind. Frauen, die für ihre Rechte gekämpft haben. Frauen, ohne deren Einsatz auch ich heute nicht vor Ihnen stehen würde. Lassen Sie uns erinnern, warum wir heute hier sind:

Die Ursprünge des Weltfrauentages fallen zusammen mit dem Kampf um das Frauenwahlrecht. Auf Initiative von zwei Sozialdemokratinnen - Clara Zetkin und Käte Duncker - fand am 19. März 1911 der erste Internationale Frauentag statt. Die wichtigste Forderung in Deutschland war das Frauenwahlrecht. 

Erreicht wurde das große Ziel im November 1918 nach Ende des Ersten Weltkriegs: Frauen in Deutschland hatten das Wahlrecht erstritten. Es war der Erfolg vieler – bürgerlicher und sozialistischer, radikaler und gemäßigter – Frauengruppen. Für diesen Erfolg hatten sie fast 100 Jahre gekämpft: 

•    Das Recht zu wählen. 
•    Und das Recht gewählt zu werden. 

Aus unmündigen Frauen wurden mündige Bürgerinnen. Doch Clara Zetkin gab sich damit nicht zufrieden. Zeit ihres Lebens kämpfte sie für die Gleichstellung der Frau, für gleiche Bezahlung und ökonomische Unabhängigkeit vom Mann durch eigene Erwerbstätigkeit. Schon 1889 hatte sie in Paris gesagt: "Die neue Rolle der Frau bewirkt ihre ökonomische Unabhängigkeit vom Manne, versetzt damit dessen politischer und gesellschaftlicher Vormundschaft über das Weib den Todesstoß." Wie schockierend müssen diese Worte gewirkt haben, vor über 130 Jahren! 

Auch in der Heilbronner Geschichte haben Sie – mindestens – eine Frau, die schockiert hat. Diese Frau hieß Anna Ziegler. Anna Ziegler war die erste Heilbronner Gemeinderätin, und die erste Heilbronnerin, die in den Reichstag gewählt wurde. Anna Ziegler wollte aktiv mitmischen, sie erhob selbstbewusst ihre Stimme. Wir lesen von ihr, dass sie „von der zeitgenössischen Frauenrolle abwich und ihre männlichen Ratskollegen überforderte."

Mutige Frauen - wie Clara Zetkin und Anna Ziegler – waren und sind unbequeme Frauen. Sie stellen den Status quo in Frage und fordern politische Veränderung und Teilhabe. Sie haben einen langen Atem und lassen sich nicht beirren, wenn ihnen der Gegenwind ins Gesicht bläst. Auch Frauen, die sich in Bereiche vorwagen, die sich scheinbar nicht für das sogenannte "schwache Geschlecht" eignen, sind mutige Frauen. Eine solche Frau war beispielsweise die Stuttgarter Fotografin Gerda Taro. Sie gilt als die erste Kriegsfotografin der Welt. 

Nun, da uns der Krieg so nahe ist, wird uns wieder bewusst, wie wichtig es ist, Krieg und Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Die Kamera war Gerda Taros einzige Waffe, als sie im Deutschland der 30er Jahre gegen die nationalsozialistische Herrschaft aufbegehrte und über Paris schließlich nach Spanien ging. Dort, im spanischen Bürgerkrieg, gab sie den republikanischen Kämpferinnen und Kämpfern gegen den Faschismus ein Gesicht. 1937 starb sie an der Front durch einen Unfall. Viele Jahre war sie vergessen. Bis man 2007 auf einem staubigen Dachboden in Mexiko einen Koffer mit 3000 Negativen entdeckte. Diese stammten von Gerda Taro und ihrem Lebensgefährten, dem Fotografen Robert Capa. 

Taros Bilder zeigen Soldaten in Schützengräben und auf dem Sterbebett im Feldlazarett, aber auch Alltagsszenen von Frauen und Kindern während des spanischen Bürgerkriegs. Gerda Taro ging ganz nahe heran an das Kriegsgeschehen und die Menschen: 
Sie gab diesen Menschen, dem Sterben und dem Tod ein Gesicht. Doch die Fotos, auf denen sie selbst zu sehen ist, zeigen eine lachende und lebenslustige junge Frau. Eine Frau, die mutig war und ihr eigenes Leben riskierte. Ihr Leben riskierte, um ihrer Leidenschaft und Berufung zu folgen. Am Tag ihrer Beerdigung, der ihr 27. Geburtstag gewesen wäre, folgten Zehntausende in Paris ihrem Sarg. Zu ihrer Zeit war Gerda Taro also eine Legende.

In Stuttgart jedoch hatte man Gerda Taro überhaupt nie richtig zur Kenntnis genommen. Bis 2007 ihre Fotos wieder ‚auftauchten‘ und in New York ausgestellt wurden. Ja, man hatte geradezu "übersehen", dass die berühmte Reporterin und erste Kriegsfotografin der Welt im Stuttgarter Süden aufgewachsen war. 2008 benannte man dann zwar einen unauffälligen Platz nach ihr. Aber erst nach vielen Jahren und langwierigen Kontroversen wurde 2014 der Platz auch angemessen zu einer Stätte der Erinnerung umgestaltet. Ihr Lebensgefährte Robert Capa gelangte als Fotograf übrigens zu weit größerer Berühmtheit als Gerda Taro. Obwohl bei einigen seiner berühmtesten Fotos bis heute nicht geklärt ist, ob nicht sie die Fotografin war.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Clara Zetkin, Anna Ziegler, Gerda Taro – diese Frauen haben Geschichte geschrieben. Es gibt aber so viel mehr mutige Frauen, deren Geschichte wir erzählen müssten! Wie viele Koffer liegen noch auf verstaubten Dachböden, die die Geschichte einer mutigen und star¬ken Frau erzählen könnten? Wie viele Frauen sind in Vergessenheit geraten?

Auf der Grundlage lexikalischer Quellen, Befragungen und Analyse von Webseiten hat das Lexikon "Who's who" die „100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Menschheits-geschichte" aufgelistet. Aufgeschrieben in Reihenfolge ihrer angeblichen Bedeutung. Auf Platz 1 steht der Buddha, auf Platz 100 Nelson Mandela. Was glauben Sie, wie viele und welche Frauen auf dieser Liste vertreten sind? Es sind ganze fünf. An erster Stelle, 

•    auf Platz 15 kommt Katharina die Große, 
•    auf Platz 25 Marie Curie, 
•    auf Platz 40 Queen Victoria, 
•    Kleopatra hat Platz 55 ergattert und 
•    Jeanne d'Arc Platz 58.

95 Männer. 5 Frauen. Auch wenn diese Liste nicht wissenschaftlich fundiert ist, scheint sie mir doch repräsentativ zu sein. Repräsentativ für eine kollektive Wahrnehmung. Diese Liste steht exemplarisch dafür, dass Frauen mit dem, was sie leisten und geleistet haben, viel weniger in unserem Bewusstsein verankert sind. Ich kann Ihnen dazu sogar ein Beispiel aus dem Landtag von Baden-Württemberg geben:

Als ich 2011 in den Landtag einzog, fiel mir sofort auf, dass alle sechs Sitzungssäle im Landtagsgebäude die Namen von Männern tragen. Als wir 2017 das neue Besucher- und Medienzentrum eingerichtet haben, war es mir daher ein persönliches Anliegen, die neuen Konferenzräume nach Frauen zu benennen. Frauen, deren Wirken für die Geschichte des heutigen Baden-Württemberg von Bedeutung war. Und auch sie sind nur eine Auswahl und stehen stellvertretend für so viele andere unbeugsame und starke Frauen:

Anna Blos: Lehrerin, Politikerin, Frauenrechtlerin, Mitglied der Nationalversammlung.
Bertha Benz: deutsche Pionierin des Automobils.
Elly Heuss-Knapp: Politikerin, Sozialreformerin, Gründerin des Müttergenesungswerks, Mitglied des Landtages von Württemberg-Baden
Margarete Steiff: Erfinderin, Gründerin, Managerin.

Meine Damen und Herren, wir müssen aktiv etwas tun, damit die Geschichte von Frauen erzählt wird! Wir müssen aktiv etwas tun, damit Frauen eine laute Stimme haben. Eine laute Stimme nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Machtzentren der Politik! Als Landtagspräsidentin setze ich mich für unsere parlamentarische Demokratie und das Grundgesetz ein. Das Grundgesetz macht in Artikel 3, Absatz 2 sehr klar: 

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die bestehenden Nachteile hin.“

Jedoch: Bis Ende der 80er Jahre lag der Frauenanteil im Landtag von Baden-Württemberg noch unter 10 %! Den Verfassungsgrundsatz der Gleichberechtigung haben wir vor allem Frau Dr. Elisabeth Selbert zu verdanken:
•    Juristin, 
•    Kommunalpolitikerin, 
•    Mitglied des parlamentarischen Rates
•    Mitglied des hessischen Landtags von 1946 bis 1958.
•    Trägerin des Bundesverdienstkreuzes.

Dr. Selbert stritt ihr ganzes Leben für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. 1981 musste sie sich leider eingestehen, dass alle Kämpfe nicht den angestrebten Erfolg erzielt hatten: Denn 1981 lag der Frauenanteil im Landtag von Baden-Württemberg bei gerade mal 5,6 %!  Diesen Zustand der Nicht-Repräsentanz kommentierte Dr. Selbert mit deutlichen Worten:

 „Die mangelnde Heranziehung von Frauen zu öffentlichen Ämtern und ihre geringe Beteiligung in den Parlamenten ist doch schlicht Verfassungsbruch in Permanenz.“

Ein Verfassungsbruch, der andauert: 2021 hat Baden-Württemberg mit 29,2 % erstmals die langjährige Schlusslichtposition bei der Repräsentanz von Frauen in einem Landesparlament abgegeben. Immerhin liegen wir damit in dieser Legislaturperiode nun im Mittelfeld der deutschen Landesparlamente. Und das auch nur – erlauben Sie mir diese Bemerkung – da 48,3 % der grünen Abgeordneten weiblich sind. 

Wir sind das einzige deutsche Landesparlament, in dem bei den Abgeordneten noch nie ein Frauenanteil von wenigstens 30 Prozent erreicht wurde! Das müssen wir ändern! Und das werden wir ändern! Die grün-schwarze Koalition hat sich zusammen mit der SPD auf eine Wahlrechtsreform in dieser Legislaturperiode geeinigt. Das begrüße ich sehr! Die Wahlrechtsreform ist ein Instrument, den Frauenanteil im Parlament zu erhöhen. Warum?

Die Einführung eines Listenwahlrechts schafft die Grundlage für eine paritätische Aufstellung, die die Parteien vornehmen können.

Und wenn sie gut beraten sind, werden die Parteien dies auch tun! Für die erfolgreiche Umsetzung braucht es auch den Druck auf die politischen Parteien, die Listen paritätisch zu besetzen! Ich sage ganz ehrlich: Ohne den bisherigen Druck von Landesfrauenrat und Öffentlichkeit wäre diese Reform nie gekommen! Ich gehe sogar soweit, dass wir eine verbindliche Quote brauchen. Appelle alleine reichen nicht!

Meine Damen und Herren, wir müssen handeln! Wir müssen und werden Frauen im öffentlichen Raum sichtbarer machen. Sie selbst haben es ja gerade erst in Heilbronn vorgemacht, indem Sie gestern einen Steg über den Neckar Anna-Ziegler-Brücke getauft haben. Damit machen Sie Anna Ziegler und ihr Leben sichtbar, geben ihr damit Öffentlichkeit und Raum. Einen ganz greifbaren, öffentlichen Raum. Ein Raum, der dann hoffentlich zu einer Veränderung der Wahrnehmung dieser mutigen, streitbaren Frau führt. Historische Frauen als Vorbilder, das brauchen wir. Vorbilder für den Kampf um Gleichberechtigung und um Demokratie.

Auch unsere Zeit ist voller Vorbilder und starker Frauen. Frauen, die sich emanzipiert haben gegen alle Widerstände. Frauen, die für ihre Rechte auf- und einstehen. Mutige Frauen, die heute, hier und jetzt alles tun, um friedlich für Freiheit zu kämpfen und die Demokratie zu verteidigen. Frauen, die uns heute Vorbild sind und auch uns Mut machen! Sie alle kennen solche Frauen, überall.

Unsere Gedanken und Solidarität sind in diesen Tagen bei den Menschen in der Ukraine, die unter diesem verheerenden Krieg leiden. Und am Internationalen Frauentag gilt unsere Solidarität besonders den mutigen und tapferen Frauen in der Ukraine! Unsere Solidarität gilt den Frauen überall in der Welt, die sich oft unter Gefahr für Leib und Leben gegen Willkür und Unfreiheit zur Wehr setzen. 

Meine Damen und Herren, der Internationale Frauentag, der 8. März, setzt seit über 100 Jahren ein starkes Zeichen: Ein starkes Zeichen für die Gleichstellung von Frauen, für gleiche Rechte, für gleiche Chancen im Beruf, für gleiche Bezahlung, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.  Aber auch gegen sexuellen Missbrauch oder gegen den Missbrauch von Macht. Macht, die weltweit unter den Geschlechtern ungleich verteilt ist. Wir alle sind aufgefordert, Frauen zu stärken, Frauen Mut zu machen, Frauen zu ermächtigen und gegen Ungleichheit und Erniedrigung zu kämpfen.

Vernetzen wir uns, stehen wir auf, seien wir laut und sorgen dafür, dass nach über 70 Jahren das Verfassungsversprechen aus Artikel 3 Absatz 2 endlich eingelöst wird!

Vielen Dank!

Fotonachweis: Stadtarchiv Heilbronn/ B. Kimmerle