08. März 2024

Rede der Präsidentin zum Internationalen Frauentag VHS Ulm

Sehr geehrter Herr Dr. Hantel, sehr geehrte Frau Bayer,

herzlichen Dank für die freundliche Begrüßung!

Liebe Gäste, liebe Frauen,

ich freue mich sehr heute hier zu sein – am internationalen Frauentag. 

Denn Ulm macht aus diesem Tag, was er meiner Ansicht nach verdient: Ein Fest. Ein Fest, 
über mehrere Tage hinweg mit vielfältigem Programm. Der internationale Frauentag ist ein Grund zu feiern. Frauen haben mit der Frauenrechtsbewegung so viel erreicht. International, hier in Deutschland, in Baden-Württemberg, in Ulm. 

Feministischer Zusammenhalt entsteht nicht allein im aktivistischen Kampf, sondern auch beim Feiern. Grund zum Feiern bietet der internationale Frauentag in diesem Jahr auch deshalb, weil er auf 3 wichtige Jubiläen verweist. Das erste Jubiläum liegt am weitesten zurück. Und ist die Voraussetzung auf Basis derer wir uns heute hier treffen. Unsere Verfassung, unser wunderbares Grundgesetz wird im Mai dieses Jahr 75 Jahre. Das ist ein besonderes Ereignis für unsere Demokratie, aber auch für alle Frauen in diesem Land. 

Denn Artikel 3 Absatz 2 zur Gleichberechtigung wurde von den 4 Müttern des Grundgesetzes hart erkämpft. Nur 4 der insgesamt 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rats, der das Grundgesetz erarbeitete, waren Frauen. 

Vor allem dem unermüdlichen Einsatz der Juristin Elisabeth Selbert (SPD) sowie der parteiübergreifenden Zusammenarbeit mit Friederike Nadig (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrumspartei) ist das klare Bekenntnis des Grundgesetzes zur Gleichberechtigung zu verdanken.

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“.

Für uns klingt das heute selbstverständlich. Aber dieser Satz erhielt viel Gegenwind. 

Der Antrag für die Aufnahme dieses Satzes in das Grundgesetz wurde zwei Mal abgelehnt. 
Weshalb Elisabeth Selber Vorträge in zahlreichen Städten hielt und Frauen dazu aufrief, ihre Stimme zu erheben. Daraufhin gingen so viele Protestschreiben und Stellungnahmen von Frauen aus dem ganzen Land beim Parlamentarischen Rat ein, dass sie ganze Wäschekörbe füllten. 

Unter diesem Druck gab der Rat schließlich seine anfängliche Ablehnung der Formulierung auf. 
Die Aktion ging als Wäschekorb-Aktion in die Geschichte ein.Ohne das Engagement der Mütter des Grundgesetzes und ohne die Stimmen zahlreicher Frauen stünden wir heute an einem ganz anderen Punkt. 

Auch das zweite Jubiläum wäre so nicht möglich gewesen. Vor 30 Jahren erfolgte die Grundrechtserweiterung von Artikel 3. Anspruch und Wirklichkeit der Gleichberechtigung passten noch nicht zusammen. Zwischen der Gleichberechtigung auf dem Papier und einer gleichberechtigten Lebensrealität lag eine Kluft. Diese Kluft musste und muss teilweise immer noch überwunden werden.

1994 wurde Artikel 3 des Grundgesetzes durch den Zusatz erweitert: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ An den Staat wird damit klar der Auftrag formuliert, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Gleichberechtigung der Geschlechter aktiv voranzubringen. Dieser Verfassungszusatz bildet für Bund, Länder und Kommunen die Rechtsgrundlage für Gleichstellungsgesetze.

Das dritte Jubiläum, liebe Gäste, erinnert an den Widerstand, den Protest der Frauen. Vor 30 Jahren fand in Deutschland der erste Frauenstreiktag statt. Am 8. März 1994 gingen über 1 Million Frauen auf die Straße. Es herrschte eine besondere Atmosphäre. In vielen Städten in der ganzen Bundesrepublik wurden Aktionen wie Arbeitsniederlegungen, Straßenumbenennungen oder Menschenketten umgesetzt. Unter dem Motto „Jetzt ist Schluss! – Uns reicht’s!“ richtete sich der Aufruf gegen die vielfältig bestehende Frauendiskriminierung nach der „Wende“, 
gegen den Abbau von Grundrechten und Sozialleistungen, gegen Gewalt, und
für gleiche Rechte für Flüchtlinge und Migrantinnen, 
für vielfältige Lebensformen und Selbstbestimmung im Falle einer ungewollten Schwangerschaft. 

Liebe Frauen, 

in diesen drei Jubiläen liegt eine besondere Kraft. Weil wir uns erinnern, wie viel Weg schon geschafft ist, auf welchen Schultern wird stehen. Gleichzeitig ist – und das wissen sie alle hier im Raum –Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen noch nicht erreicht. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit herrscht noch immer eine Kluft. In Parlamentsreihen, auf Chefsesseln, auf Gehaltszetteln manifestiert sich diese Kluft auch heute – 2024. 

Ich freue mich deshalb sehr, dass in Ulm so viele Frauen das Frauenfest feiern. Dass wir heute miteinander ins Gespräch gehen, uns erinnern, aber auch schauen, was noch zu tun ist. Dazu passt das Motto des Ulmer Frauentags: „Wir verändern“

Ich finde, das ist ein tolles Statement. Der kurze Slogan kommt ohne „müssen“, „sollen“, „können“ aus. „Wir verändern“ ist eine Mut machende Zustandsbeschreibung. Und eine Aufforderung. 

„Wenn eine Frau beschließt, ihr Leben zu ändern, ändert sich alles um sie herum.“ 

Dieses kraftvolle Zitat stammt von Eufrosina Cruz, einer bemerkenswerten mexikanischen Aktivistin und Politikerin, die sich für die Rechte und die Stimme indigener Frauen einsetzt. Mir gefällt dieses Zitat, weil es die Bedeutung des Einzelnen in Bezug setzt zum Ganzen. Veränderung ist nichts Einmaliges. Veränderung zieht Kreise. Veränderung braucht den Impuls der Einzelnen, aber braucht auch ein verstärkendes Wir. Das zeigt sich meiner Ansicht nach insbesondere in Ulm deutlich. Ulm hat mit 47,5% den höchsten Frauenanteil im Gemeinderat in ganz Baden-Württemberg. Auch bundesweit sticht diese hohe Prozentzahl auf kommunaler Ebene heraus. 

Ich glaube hier zeigt sich deutlich: Die vielfältigen langjährigen frauenpolitischen Aktionen des Ulmer Frauenforums, des Frauenbüros der Stadt, des Arbeitskreises „Mehr Frauen in den Gemeinderat“ haben große Wirkung. Bilden das verstärkende Wir, das Frauen in und für Politik auch brauchen. 

Denn, liebe Gäste, politische Beteiligung ist leider immer noch eine Frage des Geschlechts. Die Stimme der Frauen in der Politik ist eben nicht völlig selbstverständlich. Das spiegelt sich in den Parlamentsreihen. Im Bundestag sitzen knapp über 35% Frauen – im internationalen Ranking liegen wir damit auf Platz 47. 

An der Spitze stehen Ruanda, Kuba, Nicaragua und Mexiko. In unserem Landtag in Baden-Württemberg sind es noch weniger als im Bundestag – erst dieses Jahr haben wir durch das Nachrücken einer weiblichen Abgeordneten nach dem Ausscheiden eines Mannes die 30% Hürde geknackt. 1988 betrug der Frauenanteil 8,8%. Und auf kommunaler Ebene sind es im Schnitt etwas über einem Viertel Frauen. 

Wir zählen damit zu dem Bundesland mit den niedrigsten Frauenanteilen in Gemeinderäten. In kleineren und ländlich geprägten Gemeinden gibt es immer noch Gemeinderäte, in denen keine einzige Frau sitzt – 22 sind es in Baden-Württemberg. In diesen Gemeinden ist die Stimme der Frauen nicht nur leise – sie taucht gar nicht erst auf!

Interessant ist nicht nur der Anteil gewählter Frauen. Sondern auch der Anteil an Kandidatinnen. Sowohl der Anteil an Kandidatinnen, als auch ihre Erfolgschancen variieren deutlich je nach Partei. Meine Partei, die Grünen, erreichten bei den Gemeinderatswahlen im Land beinahe Parität. Die Erfolgschancen, gewählt zu werden, waren als Frau sogar besser! Das deutliche Schlusslicht bildet die AfD. Hier kandidierten für die Gemeinderäte in Baden-Württemberg 21,7%, tatsächlich gewählt wurden allerdings nur 6,8%. 

Insgesamt lässt sich für die Gemeinderatswahlen 2019 leider feststellen, „dass Frauen nicht nur weniger häufig kandidierten als Männer, sondern ihr politisches Engagement gleichzeitig seltener zum Erfolg führte.“ Das Statistische Landesamt, das zu dieser Schlussfolgerung kommt, führt weiter aus: Die Verteilung der Listenplätze auf den Wahlvorschlägen der Parteien hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Präsenz von Frauen in den Kommunalparlamenten des Landes.

Im April 2022 wurde nun – endlich, nach langem Ringen – das Landtagswahlrecht reformiert. 
Schon bei der kommenden Landtagswahl wird das Zwei-Stimmen-Wahlrecht gelten. Nun liegt es an den Parteien, das neue Landtagswahlrecht durch quotierte Listen 
so einzusetzen, dass eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen im baden-württembergischen Landesparlament ermöglicht werden kann.

Ich hoffe sehr, dass der Frauenanteil spürbar wachsen wird, und wir dem Ziel der Parität näherkommen. Denn: Mir geht es um die Demokratie. Um ihren Schutz und um ihren Erfolg.  Unsere Demokratie ist dann erfolgreich, wenn sie die Perspektiven und Lebensrealitäten möglichst vieler Menschen aus unterschiedlichen Kontexten widerspiegelt. 

Die Hälfte der Menschen in unserem Land sind Frauen. Aber in unseren Parlamenten sind sie das nicht – und das ist das Problem. Das Listenwahlrecht wird die Probleme politischer Repräsentanz nicht alleine lösen: Frauen müssen auch selbst aktiv sein und ihre Stimme erheben. Das ist leichter gesagt als getan. 

Das Statistische Bundesamt hat im Februar aktuelle Zahlen zum Gender-Care-Gap geliefert. Frauen leisteten 2022 43,8% mehr unbezahlte Arbeit als Männer. Die Hälfte dieser Arbeit 
besteht aus klassischer Hausarbeit, also kochen, putzen, waschen, einkaufen. Besonders stark betroffen sind Frauen mit kleinen Kindern. Ist das jüngste Kind unter 6 Jahren, arbeiten sie im Schnitt über 61 Stunden die Woche. Ist das jüngste Kind über 6 Jahre, sind es immerhin noch über 53 Stunden. Das macht gesellschaftspolitisches Engagement natürlich herausfordernd. Trotzdem sind viele Frauen aktiv, erheben ihre Stimme. Bestimmt auch viele von Ihnen hier im Saal.

Darüber hinaus wissen wir auch um die Widrigkeiten, denen Frauen oft ausgesetzt sind, sobald sie im öffentlichen Raum die Stimme erheben. Laut der Vereinten Nationen erleben 
knapp drei Viertel der Frauen weltweit Hass im Netz. Laut einem aktuellen Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte sind Frauen das Hauptziel des Hasses in sozialen Netzwerken. Das war das Ergebnis nach einer Untersuchung von 350 000 Kommentaren. Kürzlich hat eine Studie mit dem Titel „Lauter Hass – Leiser Rückzug“ Schlagzeilen gemacht. Ihr Ergebnis: Der Hass im Netz bedroht unsere Demokratie. 

Denn besonders oft richtet er sich gegen Politikerinnen und Politiker; Aktivistinnen und Aktivisten, 
aber auch gegen ohnehin diskriminierte Teile der Gesellschaft; darunter: Frauen. Das heißt: Gerade vielfältige Stimmen drohen zu verstummen. Und gerade Frauen, die sich öffentlich für etwas stark machen, werden Opfer digitaler Gewalt. In Baden-Württemberg wurde 2019 beim Landeskriminalamt daher sogar eine Hilfs-Hotline für Personen in der Öffentlichkeit eingerichtet, 
weil gerade Amts- und MandatsträgerInnen immer stärker von Anfeindung, aggressivem Verhalten und Respektlosigkeit betroffen sind. 

An den Wenigsten geht diese Anfeindung spurlos vorbei. Einige ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück. Übrigens werden Männer häufiger Opfer von verbalen oder körperlichen Angriffen. Auch da ist jeder Vorfall einer zu viel. Die Hasspostings, die eher auf Frauen zielen, zielen aber nicht nur auf das einzelne Opfer, sondern auf das Frausein an sich.

Die Beleidigungen, die ich erfahre, seit ich Landtagspräsidentin bin, haben sehr oft einen sexualisierten Kontext: Ich werde nicht nur für meine politischen Überzeugungen beleidigt, sondern auch besonders als Frau. In einer Heftigkeit, die ich mir vorher nicht habe vorstellen können. Aber diese Art der Anfeindung ist typisch gegenüber Frauen, das beweisen die Statistiken. Ich bringe Beleidigungen inzwischen zur Anzeige. Denn Hass und Hetze ─ ob in der digitalen oder analogen Welt ─ müssen geahndet und verurteilt werden! Die sexistischen Beleidigungen und Anfeindungen, mit denen Frauen zu kämpfen haben, kosten viel Energie und Ressourcen. Wenn Frauen sehr viel Kapazität aufwenden müssen, um sich im Netz gegen Hate Speech zu wehren, dann bedeutet das ein Verschieben des Machtgefüges in Richtung Männer, die von ihrer Meinungsfreiheit in diesem Sinne freier Gebrauch machen können.

Sehr geehrte Gäste,

vor einigen Jahren zog Renate Künast als Politikerin bis vor das Bundesverfassungsgericht, 
weil das Berliner Kammergericht nur die Hälfte der gegen sie auf Facebook geäußerten Beleidigungen als solche anerkannt hatte. Das Bundesverfassungsgericht folgte mit seinem Urteil dem Kammergericht nicht und zwang es, sich erneut mit dem Fall zu beschäftigen. Für ihren Einsatz und ihre Hartnäckigkeit bin ich Renate Künast sehr dankbar! Sie hat hier einen juristischen Erfolg erstritten, der die Rechtsprechung in Deutschland verändert hat und Mut macht.

Denn wenn sich Frauen aus dem Diskurs, aus der Öffentlichkeit zurückziehen oder gar nicht erst mitgestalten – dann ist das ein Problem für unsere Demokratie und muss von uns allen, von uns als Gesellschaft, bekämpft werden. 

Sehr geehrte Damen und Herren,

die aktuelle politische Lage in Deutschland bereitet mir große Sorgen. Dialog und Begegnung, wie es Anspruch auch der heutigen Veranstaltung ist, scheinen für viele lautstarke Menschen kein Format mehr zu sein, durch das sie ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Die Belagerung der grünen Aschermittwoch-Veranstaltung in Biberach war sicherlich der traurige Höhepunkt einer Entwicklung der letzten Monate und Jahre, in denen jedes Maß für politischen Streit verloren gegangen zu sein scheint. Und wenn ein bayrischer Ministerpräsident dieser Tage eine demokratische Konkurrentin, eine Bundesministerin, mit einer Diktatoren-Frau der SED vergleicht – und sei es nur als dummer Witz –, dann beweist das leider, dass noch nicht alle die Signale hören. Entweder hat er den Ernst der Lage der letzten Monate und Jahre nicht verfolgt – das wäre schlimm in seinem Amt – oder er hat sie nicht verstanden – das wäre dann NOCH schlimmer. 
Leider ist er damit nicht allein. Es reicht aber nicht, von der Brandmauer zu reden und dann Öl ins Feuer zu gießen: Hass beginnt mit der Sprache. Carolin Emcke zeichnet das in ihrem Buch „Gegen den Hass“ nach. Hass beginnt schon mit der Verallgemeinerung, mit dem Vor-Urteil: „Die Politik“, „Die Medien“, „Die da oben“, „Die Weiber“, „Die Juden“, „Die Ausländer“. Das Individuum, der einzelne Mensch wird in so einer Zuschreibung unsichtbar gemacht. 
In der Verallgemeinerung kann man ihm allerlei andichten, ihn zum Sündenbock für alles machen. Und in dieser zusammengereimten Erzählung wächst die Wut, schwindet die Hemmung, herrscht der Hass. Diskriminierung und Differenzierung gehen nicht zusammen. Erst pauschales, diskriminierendes Gerede, ob am Stammtisch oder im Parlament, lässt langsam den Hass aufkeimen – solange dem nicht ein energischer Widerspruch entgegengesetzt ist. 

Ich bin deshalb sehr froh, dass es seit Anfang des Jahres in der Bevölkerung eine beeindruckende Bewegung gegen den Hass gibt. Jedes Wochenende finden zahlreiche Demonstrationen statt, in großen und in kleinen Städten. Überall beziehen Bürgerinnen und Bürger Position gegen Rechtsextremismus und für Demokratie. Insbesondere auch in Ostdeutschland. Dort, wo Rechtsextreme stark vertreten sind, gehört dazu ganz besonderer Mut. Ausgelöst hat es die Correktiv-Recherche, die ein Neonazi-Treffen offenlegte, bei dem die Vertreibung von Millionen Deutschen mit Zuwanderungsgeschichte als „Masterplan“ besprochen wurde – mit Beteiligung von AfD und Werteunion.

Bei den beeindruckenden Demonstrationen der letzten Wochen gingen Menschen teils zum ersten Mal auf die Straße. Diese Menschen erkannten, was rechte Kräfte vor den Augen der großen Öffentlichkeit lange zu verharmlosen schafften: Es geht um mehr als die geplante Ausweisung von Millionen von Menschen mit und ohne deutschen Pass. Solche Treffen und die daran teilnehmenden Extremistinnen und Extremisten sind ein Angriff auf uns alle, die wir dieses Land mitgestalten, unsere grundgesetzlich verbrieften Freiheitsrechte wahrnehmen und vor allem in einem demokratisch verfassten Land leben möchten. 

Die Demonstrationen für unsere Demokratie machen mir momentan Mut und Hoffnung. Wir müssen jetzt schauen, dass diese demokratische Energie nicht verpufft. Wir brauchen Frauen UND Männer, die sich engagieren. 

Wir brauchen Menschen mit internationaler Geschichte, die sich engagieren. Wir brauchen Menschen jeden Geschlechts und Alters, jeder Hautfarbe und Religion, die sich für unsere Demokratie stark machen. 

In Vereinen. In Gesprächen und Begegnungen. Auf den Straßen. In politischen Ämtern. An den Wahlurnen. Jede Stimme zählt.

Meine Damen und Herren, 

Frauen haben durch die Geschichte hindurch und bis in die heutige Zeit immer wieder gezeigt: Wenn sie ihre Stimme erheben, können sie die Welt verändern. Und es ändert sich die Welt um sie herum. Das Recht von Frauen zu wählen und gewählt zu werden, ist zweifelsohne eine der größten Veränderungen gesellschaftspolitischer Art der letzten 100 Jahre. In aller Regel wurde diese Veränderung von Frauen selbst erstritten. Gleichberechtigung musste immer erstritten und verteidigt werden. Machen wir uns das immer bewusst, wenn wir glauben, wir hätten nichts zu verlieren. 

Und es braucht immer mutige Menschen, die diesen Kampf führen. So wie Eufrosina Cruz, 
von der das Zitat zu Beginn stammt. 1979 in einem kleinen Dorf im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca geboren, floh sie mit elf Jahren von zu Hause, da sie nicht wie ihre ältere Schwester mit 12 Jahren verheiratet werden wollte. Sie wollte neben ihrer indigenen Muttersprache  auch Spanisch lernen, einen Beruf ausüben, und die Lebenssituation von Mädchen und Frauen verbessern. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lehrerin in indigenen Gemeinschaften. Die Veränderung, die sie für sich erkämpft hatte, wollte sie auch für andere Mädchen und Frauen erreichen – in Schulen wie auch in ihrem Heimatdorf.

Denn dort hatte sich nichts verändert, die patriarchalen Strukturen wiesen den Frauen weiterhin die untergeordnete Rolle im Haus zu. Eufrosina Cruz forderte Veränderung ein und kandierte als Bürgermeisterin. Wider Erwarten wurde sie gewählt, als erste Frau in ihrem Dorf. Doch die Behörden des Dorfes erkannten die Wahl nicht an und bezogen sich dabei auf mündliche Überlieferungen, die es Frauen untersagten, politische Ämter einzunehmen.

Diese Überlieferung hatte Vorrang vor den Gesetzen des Bundesstaates und des Landes, da man sich in Oaxaca verpflichtet hatte, indigenes Recht zu akzeptieren und Traditionen zu schützen. Eufrosina Cruz kämpfte für Veränderung. Sie erreichte innerhalb von zwei Jahren 
nichts weniger als die Änderung der Staatsverfassung, die Frauen auch im Bundesstaat Oaxaca den gleichberechtigten Zugang zu Wahlen und damit das aktive wie passive Wahlrecht garantiert.

Eine unfassbare Leistung! Das gleiche und allgemeine Wahlrecht ist Grundlage eines demokratischen Staates. Nicht ohne Grund schränken autoritäre Machthaber nach der freien Presse sofort die freien Wahlen ein: Kandidatinnen und Kandidaten der Opposition werden in der Ausübung entweder ihres Mandats oder ihrer Wahlkampagne behindert, sie werden bedroht, eingeschüchtert, weggesperrt und ermordet.

Diktatoren fürchten nichts mehr als das freie Wort, das Freiheit von Unterdrückung und Zensur verlangt.

Liebe Gäste, 

ich mache mir aktuell große Sorgen um eine Frau, die zusammen mit Svetlana Tichanowskaja und Veronika Tsepkalo 2019 als Gesicht der friedlichen Protestbewegung in Belarus bekannt wurde: Maria Kolesnikowa. Seit einem Jahr gibt es von ihr kein Lebenszeichen, ihre Familie darf sie weder besuchen noch mit ihr sprechen. Vor einigen Wochen traf ich ihre Schwester Tatsiana Khomich, die sich unermüdlich für Marias Freilassung einsetzt. 

Sie berichtete mir von der großen Sorge um Marias Gesundheitszustand und bat eindringlich, weiterhin auf das Schicksal von Maria aufmerksam zu machen und sie und die anderen politischen Gefangenen in Belarus nicht zu vergessen. Maria ist ein Vorbild in ihrem unerschrockenen Einsatz für Demokratie und Menschenrechte. Eufrosina Cruz ist ein Vorbild 
in ihrem selbstlosen Einsatz für Frauenrechte.

Überall in der Welt finden wir diese mutigen Frauen, die ein Vorbild für Selbstbestimmung und Selbstbehauptung sind. Die uns zeigen, dass Mut und Entschlossenheit eine Welle der Veränderung auslösen. Auch wenn ein glückliches Ende nicht immer garantiert ist, sondern Repression und der Verlust des eigenen Lebens drohen: Die Aufzählung mutiger und freiheitsliebender Menschen kann unendlich weitergeführt werden. Und sie beinhaltet auch viele mutige Männer, die für Menschenrechte und Demokratie streiten. Ihre Namen sind oft bekannter als die von mutigen Frauen, aber das schmälert ihren Einsatz nicht.

An dieser Stelle möchte ich aus leider aktuellem Anlass Alexej Nawalny gedenken. Nawalny hat das autoritäre kriegstreiberische System Putin herausgefordert und mit seinem Leben dafür bezahlt. Ich verbeuge mich vor seinem Mut und seiner Entschlossenheit. Er hat wahnsinnig vielen Menschen Hoffnung gegeben, und wir können nur hoffen, dass sein Tod nicht umsonst war. Seine Witwe, Julija Nawalnaja, hat vor kurzem eine Videobotschaft veröffentlicht. Darin sagt sie: Putin habe die Hälfte ihres Herzens und ihrer Seele getötet. Aber die andere Hälfte habe sie noch. 

Sie kündigte an, den Kampf ihres Mannes gegen Putin weiterzukämpfen. Und es ist klargeworden: Die neue Stimme des Mutes, der Freiheit und der Veränderung in Russland gehört einer Frau, und sie heißt Julija Nawalnaja!

An dieser Stelle möchte ich aber auch betonen: Man muss keine Freiheitskämpferin sein, um Veränderung zu bewirken. Im Gegenteil: Für unser gesellschaftliches Gelingen brauchen wir insbesondere Heldinnen des Alltags. Frauen, die sich ehrenamtlich engagieren. Die den Mut fassen, Ämter anzunehmen in Politik und Gesellschaft. Die sagen: Ich traue mir das zu. Ich gestalte. Ich wirke. Die Leistung dieser Alltagsheldinnen erhält vielleicht manchmal weniger Aufmerksamkeit und Applaus. Aber sie ist großartig. Für unser gesellschaftliches Zusammenleben ist sie entscheidend. Und für die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern ganz zentral. 

Meine Damen und Herren,

die Geschichten von Maria Kolesnikowa oder Julija Nawalnaja machen einen umso dankbarer, in einem demokratischen Staat zu leben: behütet und beheimatet im Grundgesetz mit all unseren dort verfassten Privilegien: den Rechtswegen, der Meinungsfreiheit, dem Wahlrecht. Diese Errungenschaften gilt es zu schätzen. Es gilt sie aber auch zu schützen. Es gilt, die Stimme laut und klar zu erheben: für Freiheit und Gleichheit, gegen den Hass. Auf den Straßen und Plätzen der Republik. An der Wahlurne. In den Vereinen oder Parteien. Es gilt mehr denn je, 
für alle von uns, eine Stimme für Demokratie, für Toleranz, für Vielfalt zu sein. 

Und der Chor, der dadurch entsteht, wird den Ton angeben, wird lauter sein als das Grölen der Ausgrenzer. Er wird immer mehr Menschen Gehör verschaffen, und Mut machen, mit einzustimmen. Und dieser vielfältige Klang, meine Damen und Herren, heißt: Veränderung.