Rede zu 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen im Neuen Schloss in Stuttgart

Sehr geehrter Herr Generalkonsul,
lieber Herr Öner,
Sehr geehrter Herr Dr. Nopper,
sehr geehrter Herr Grube,
lieber Herr Gündüz, lieber Herr Erdogan.
Ich danke Ihnen und allen Beteiligten für die Initiative zu diesem Festakt.
60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei - das ist für unser Land und unsere Stadt ein enorm wichtiges Jubiläum.
Es ist eine Gelegenheit, die Menschen zu würdigen, die über die Jahrzehnte hart gearbeitet haben, die viel aufgebaut haben.
Diesen Menschen möchte ich sagen: Danke! Danke für eure Lebensleistung.
Meine Damen und Herren,
Deutschland ist seit mehr als sechs Jahrzehnten ein Einwanderungsland.
Und die Region Stuttgart hat davon besonders profitiert.
Der wirtschaftliche Aufschwung der 60er wäre nicht möglich gewesen ohne Millionen zusätzliche Fachkräfte.
Den guten Ruf von „Made in Germany“ verdanken die Spitzenprodukte unserer Region
– von Maschinen bis zum Automobil -, dass sie auch „made by“ Menschen sind, die Wurzeln in anderen Ländern haben.
Das ist eine Erkenntnis aus der Geschichte des Anwerbeabkommens – und für unsere Zukunft.
In einer globalisierten Welt werden diejenigen Gesellschaften die besseren Ideen entwickeln, die auf ALLEN Ebenen und Positionen vielfältig aufgestellt sind: weil sie Herausforderungen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und angehen.
Es ist daher kein Wunder, dass 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei, Ökonomen für mehr Zuwanderung werben.
Mehr Wohlstand, eine zukunftsfähige Wirtschaft brauchen zusätzliche Fachkräfte
Aber was ökonomisch notwendig ist,ist gesellschaftlich teilweise umstritten.
Auch deshalb sind Feierstunden wie diese so wichtig. Sie führen uns die Vorteile von Zuwanderung, Integration und Vielfalt vor Augen.
Sie rücken zugleich die Menschen in den Fokus. Wir sehen Interviews mit den Pionierinnen und Pionieren der 1. Generation.
Wir hören Erfolgsgeschichten und wie sie zustande gekommen sind.
Diese Geschichten
– die Würdigung dieser Menschen
– ist in unseren Debatten bisher viel zu kurz gekommen.
Das Jubiläum des Anwerbeabkommens ist eine Chance, das zu ändern:
Wir drücken damit als Gesellschaft unseren Respekt vor dem Lebenswerk von Millionen Bürgerinnen und Bürgern aus.
Respekt vor dem Mut, den Aufbruch in ein anderes Land, in ein anderes Leben zu wagen.
Respekt vor der Kraft und der Beharrlichkeit, um für sich und die Familien einen Platz zu finden und manchmal auch zu erkämpfen.
Respekt vor der Beherztheit, mit der diese Menschen, ihre Kinder und Enkel, die Chancen dieses Landes ergriffen und die Hürden überwanden.
Diese Hürden waren teilweise sehr hoch. Anfangs durften Familien nicht nachziehen. Sprachkurse gab es fast keine, offizielle Unterkünfte waren ärmlich und bewusst als Parallelwelt abseits angelegt.
Viele Menschen haben sich ihren neuen Nachbarn dennoch offen zugewandt – meine Familie etwa hatte das Glück, auf Menschen zu treffen, die neugierig auf uns waren.
Aber Staat und Institutionen haben lange Zeit keine Willkommenskultur praktiziert.
Das – meine Damen und Herren – war respektlos.
Es war auch nicht im Interesse der Mehrheitsgesellschaft.
Wenn wir uns Integrations-Probleme näher anschauen – und auch das gehört zur Geschichte des Anwerbeabkommens – dann erkennen wir, dass sie sehr oft mit Kränkungen zusammenhängen. Wer sich nicht anerkannt fühlt, wer wahrnimmt, dass Name, Glaube, das Aussehen zu Benachteiligung in elementaren Lebensbereichen wie Arbeit oder Wohnen führt, der oder die ist anfällig.
Anfällig für religiöse und nationalistische Ideologien, die genauso auf ein „Wir gegen die“ setzen wie es auf der anderen Seite Rechtsextreme und Rassisten tun.
Umso wichtiger ist es, die Geschichte von Zuwanderung im kollektiven Gedächtnis zu verankern und die Lebensleistung dieser Menschen zu sehen und zu würdigen.
Der Respekt, der daraus erwächst, ist eine Voraussetzung für Zusammenhalt in Vielfalt.
Und den brauchen wir, um als Gemeinwesen erfolgreich zu sein.
Respekt und Würdigung wie wir sie heute erweisen und in unser Umfeld weitertragen, immunisieren unsere Gesellschaft gegen das Gift der Spaltung.
Dafür ist das Erinnern wichtig. Dafür danke ich Ihnen. Und zwar ganz persönlich.
Denn auch ich bin ein Kind des Anwerbeabkommens. Ich stehe vor Ihnen, weil meine Mutter die Kraft hatte, die patriarchalen Strukturen ihres Dorfes nicht hinzunehmen, sondern nach einem anderen Leben zu streben.
Ich stehe vor Ihnen, weil mein Vater den Mut hatte, zunächst alleine und in fremder Umgebung die Grundlagen für ein neues Leben zu legen – auch für mein Leben. Ich bin meinen Eltern dankbar. Dankbar für ihre Weitsicht. Dankbar, dass sie alles in die Bildung ihrer Kinder investiert haben, insbesondere auch in die Bildungschancen ihrer Töchter.
Dankbar, dass sie erkannt haben, dass es diese Chancen hier gibt. Meine Eltern setzten auf den Austausch mit den Deutschen, damit wir schnell die Sprache lernen. Ihr klares Ziel war: unsere Kinder sollen studieren.
Sie haben auf viel verzichtet, um ihren Kindern mehr zu ermöglichen.
Meine Mutter hat mal gesagt:
Wenn ich in eurem Alter hierhergekommen wäre, ich wäre Bürgermeisterin geworden.
Der Lebensweg meiner Eltern hat ihren Kindern und ihren Enkeln ermöglicht, ihren eigenen Weg frei zu finden.
Das gilt für Millionen Kinder und Enkel in diesem, in unserem Land. Millionen Gründe zu feiern.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.