27. Januar 2022

Rede zum Gedenktag am 27. Januar 2022

Liebe Gäste,

ich begrüße Sie herzlich zur Gedenkstunde des Landtags von Baden-Württemberg zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

Pandemie-bedingt sind wir an verschiedenen Orten. Aber unsere Gedanken sind gemein­sam bei denjenigen, die dem Terror der NS-Herrschaft zum Opfer fielen. Bei denjenigen, denen die menschenverachtende NS-Ideologie die Menschenwürde absprach, weil sie eine andere Herkunft hatten, anders glaubten, lebten, dachten oder liebten. Unsere Gedanken sind bei denjenigen, die sich wehrten gegen den Zivilisationsbruch der Täter und der Mitläufer. Bei denjenigen, für die mit dem Ende der NS-Diktatur Verfolgung und Ausgrenzung nicht zu Ende waren. Das trifft auf die Gruppe der Sinti und Roma im besonderen Maße zu.

Meine Damen und Herren,

Sie haben zu Beginn der Gedenkstunde gesehen, wie wir vor dem Mahnmal für die in Ravensburg verfolgten Sinti einen Kranz niedergelegt haben. Das Mahnmal erinnert an die Menschen, die am 13. März 1943 von Ravensburg nach Auschwitz deportiert und größtenteils dort ermordet wurden. Das Mahnmal steht seit 1999 vor der Kirche St. Jodok.

Aktuell erinnert eine Ausstellung im städtischen Museum Humpis-Quartier an die Aus­grenzung und Verfolgung Ravensburger Sinti im Nationalsozialismus.

Beides ist ein Zeichen. Ein Zeichen der Verantwortung und ein Zeichen der Verständigung. Aber zwischen der Verfolgung in der NS-Zeit und dem sichtbaren Gedenken an diese Verfolgung liegt eine lange Zeit. Eine lange Zeit, in der die Erinnerung an das Leid der Sinti und Roma unterdrückt wurde, um sie als Gruppe weiter unterdrücken zu kön­nen. Mit Folgen bis heute. Und darum geht es uns am heutigen Tag:

Gedenken heißt Nachdenken. Nachdenken darüber, was uns die Geschichte für das Hier und Heute lehrt. Nachdenken auch über unsere Erinnerungskultur selbst. Wie wir uns erinnern prägt unsere Gesellschaft. Ob und wie wir uns an die Ausgrenzung von Sinti und Roma erinnern - an die Verbrechen an ihren Gemeinschaften –  das hat Auswirkungen darauf, wie wir als Gesellschaft auf ihre Erfahrungen von Diskriminierung heute reagieren.

Meine Damen und Herren,

Gedenken gestaltet Gegenwart. Dass Gedenken unsere Gesellschaft voranbringt, ist der Anspruch des Landtages und der Opfergruppen, die den Gedenktag vorbereiten. Wir arbeiten gemeinsam an diesem übergeordneten Ziel. Wir gedenken dabei immer aller Opfer des Nationalsozialismus. Auch wenn wir jedes Jahr eine Gruppe besonders in den Fokus rücken. Dafür danke ich allen Beteiligten.

Namentlich

den israelitischen Religionsgemeinschaften Württemberg und Baden,

dem Verein Weißenburg e.V.,

dem Verein der Verfolgten des Naziregimes,

der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas und

dem Bund der Jenischen in Deutschland.

Ich danke

Frau Dr. Fings von der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg für ihren später folgenden Fachvortrag.

Unseren Gastgebern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadt Ravensburg, vertreten durch Herrn Oberbürgermeister Dr. Rapp.

Besonders danke ich dem Landesverband der Sinti und Roma.

Als ihr Vertreter wird Herr Strauß zu uns sprechen.

Außerdem zeigen wir einen Film, den junge Mitglieder der Gemeinschaft der Sinti und Roma über die Verfolgungsgeschichte in der Stadt Ravensburg gedreht haben. Diese Geschichte ist exemplarisch, denn sie reicht weit über die NS-Zeit hinaus:

Von 1937 an internierte die Stadtverwaltung die Ravensburger Sinti im Zwangslager Um­menwinkel. Nach 1945 blieb die Barackensiedlung bestehen. Sie wurde weiter genutzt. Sie war eine der - ich zitiere - „Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung der Landfahrerplage“, wie die Unterdrückung von Sinti und Roma nach dem Krieg etikettiert wurde. Nicht nur in Ravensburg, überall in der Bundesrepublik, haben staatliche Stellen auch nach 1945 Sinti und Roma drangsaliert und an den Rand gedrängt: So wies der Bundesgerichtshof 1956 Klagen von Opfern des Nationalsozialismus ab. Für die Verfol­gung seien zumindest bis 1943 nicht "rassenideologische Gesichtspunkte", sondern die – ich zitiere aus dem Urteil - "asozialen Eigenschaften der Zigeuner" maßgebend gewesen, "die auch schon früher Anlass gegeben" hätten, "die Angehörigen dieses Volkes besonderen Beschränkungen zu unterwerfen." (Zitat Ende)

In der Ausstellung der Stadt Ravensburg finden sich auch Ausstellungsstücke, die den langen Kampf um Anerkennung dokumentieren. Manche Überlebende erhielten erst Anfang der 2000er Jahre eine Entschädigung für die Sklavenarbeit, zu der sie in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern gezwungen wurden.

Diese Missachtung, die Fortdauer von Benachteiligung und Ausgrenzung, traf und trifft nicht nur die unmittelbar Betroffenen. Sie hat mehrere Generationen geprägt und sie um ihre Chancen gebracht. Ablesen können wir das an der aktuellen RomnoKher-Studie zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland:

Aus umfangreichen Befragungen kommen die Autorinnen und Autoren der Studie zu dem Schluss, ich zitiere: „Ein Zusammenhang mit der Bildungsmisere der heute über 50-Jährigen als Nachkommen von direkt betroffenen Opfern des Nationalsozialismus ist sehr wahrscheinlich.“ (Zitat Ende)

Die Traumatisierung durch den Holocaust hatte ein tiefes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen in die Herzen derjenigen eingebrannt, die in den Jahrzehnten nach 1945 Kinder bekommen hatten. Dieses Misstrauen war zum Teil leider berechtigt. Es richtete sich gegen ein Schulsystem, das Kinder aus Sinti- und Roma-Familien bewusst in Förderschulen absonderte.

Heute ist die Situation eine andere: Die Bildungsteilhabe der heute 18- bis 25-jährigen Sinti und Roma hat sich im Vergleich zu früheren Generationen massiv verbessert. Diese Erfolge hängen mindestens mittelbar mit Erinnerungsarbeit zusammen. Sinti und Roma haben sich bessere Chancen erkämpft, indem sie für ihre Sichtbarkeit kämpften. Dazu gehörte insbesondere der Kampf um Anerkennung der Verbrechen des Natio­nalsozialismus.

Am Karfreitag 1980 traten Angehörige der Sinti auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau in einen Hungerstreik, um auf ihre Verfolgung im Nationalsozialismus und ihre anhaltende Diskriminierung aufmerksam zu machen. Diese viel beachtete Aktion ist ein zentrales Ereignis ihrer Bürgerrechtsbewegung. Der Hungerstreik führte dazu, dass die Bundesrepublik den Völkermord an Sinti und Roma 1982 offiziell anerkannte.

Dieser Erfolg von Aktivistinnen und Aktivisten hat dazu geführt, dass die Bundesrepublik begann, konkrete Lehren aus der Geschichte zu ziehen:

Nämlich die Kontinuität von Dis­kriminierung und Ausgrenzung zu unterbrechen.

Daran erkennen wir:

Erinnerungsarbeit ist ein Motor für gesellschaftlichen Wandel. Deshalb müssen wir Erinnerung lebendig halten. Der Motor darf nicht ins Stottern kommen. Denn am Ziel sind wir noch lange nicht.

Die aktuelle RomnoKher-Studie zeigt auch, dass die Bildungssituation junger Sinti und Roma trotz gewaltigen Aufholens immer noch schlechter ist als im Durchschnitt. Sie zeigt, dass die Mehrheit junger Sinti und Roma Schule als Tatort von Beleidigungen und rassistischer Demütigung erlebt. Und sie zeigt auch, dass nur ein verschwindend geringer Teil der Befragten ihre Lehrerinnen und Lehrer als Verbündete erleben oder erlebt haben.

Das zeigt uns – der Politik, den staatlichen Institutionen:

Unsere Strukturen sind immer noch teilweise blind mit Blick auf die Vielfalt unserer Gesellschaft.

Leider sind Teile dieser Strukturen manchmal sogar selbst diskriminierend. Anfang 2021 ging ein Polizeibericht bundesweit durch die Medien. In Singen hatten Beamte nach einem Einsatz wegen Ruhestörung einen spielenden 11-Jährigen Jungen verhaftet und ihn in Handschellen abgeführt. Sie äußerten Beleidigungen und Drohungen wie - ich zitiere aus einer Mitteilung des Zentralrates der Sinti und Roma:

„Einer von den Zigeunern, die kennen wir ja“,

„Du kommst eine Nacht hinter Gitter“ und

„Der Tod kommt dich holen“.

Das 11jährige Kind wurde im Verhörzimmer festgehalten und später alleine nach Hause geschickt. Die Mutter hatte vorher vergeblich auf der Wache an­gerufen und keine Auskunft erhalten.

Ich bin unserem Innenminister Thomas Strobl und der Polizeiführung dankbar, dass sie diesen Vorfall mit Nachdruck verfolgt haben. Die Staatsanwaltschaft hat inzwischen Strafbefehle gegen vier Beamte erlassen. Unser Rechtsstaat hat damit ein klares Signal gesetzt, dass er Rassismus auch in den eigenen Reihen nicht duldet.

Ich bin mir sicher: Die große Mehrheit unsere Polizistinnen und Polizisten übt ihren Dienst mit einer beeindruckenden Motivation aus und lebt die Werte un­sere Demokratie mit großer Überzeugung. Der Fall des 11jährigen Jungen zeigt uns, dass wir uns dennoch damit auseinandersetzen müssen, dass es Rassismus teilweise auch in unseren Institutionen gibt. Dessen Ausmaß müssen wir erforschen. Wir müssen präventiv handeln, damit der Rassismus Einzelner nicht zum Rassismus von Institutionen wird.

Ich bin sehr froh, dass die Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat, mit einer wissenschaftlichen Studie zu untersuchen, welche Erfahrun­gen die Bürgerinnen und Bürger mit staatlichen Stellen machen. Diese Studie kann zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung und zur Versachlichung bei­tragen.

Meine Damen und Herren,

Dass die Beziehung zwischen Polizei und einem Teil der Bürgerinnen und Bürger belastet ist, hat historische Wurzeln. In der NS-Zeit. Davor und leider aber auch danach. Für ein besseres Miteinander und damit für mehr Sicherheit müssen wir diese Geschichte aufarbeiten.

Wir brauchen auch hier Erinnerungsarbeit als Motor. Für Politik und Staat ist das nicht einfach nur ein Projekt. Es ist ein Auftrag unserer Verfassung. Auch um das zu verstehen, müssen wir uns erinnern. Erinnern daran, dass das Grundgesetz eine unmittelbare Reaktion ist auf die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen.

Artikel 3 Grundgesetz verbietet Benachteiligung etwa aufgrund von Religion, Herkunft oder Behinderung. Das steht im Grundgesetz, weil nur wenige Jahre zuvor Menschen wegen ihrer Religion, Herkunft oder einer Behinderung ermordet wurden. Rassismus zu bekämpfen gehört zur DNA unserer Grundwerte. Die Mahnung „Nie wieder“ und der Anspruch „Nein zu Rassismus“ gehören zusammen.

Deshalb muss der Staat Anti-Rassismus verkörpern und vorleben. Der Staat, für den das Grundgesetz bindend ist, muss Vorreiter sein, wenn die Werte des Grundgesetzes in allen Bereichen der Gesellschaft verbindlich sein sollen.

Meine Damen und Herren,

Ziel eines solchen Wertekonsenses ist die Freiheit, sich ungehindert entfalten zu können. Stellen Sie sich selbst in diesem Zusammenhang die Frage: Wie frei bin ich, wenn ich nicht frei sagen kann, wer ich bin? Für Sinti und Roma steht diese Frage permanent im Raum. Sage ich, wer ich bin, obwohl ich weiß, dass es negative Folgen haben kann?

Vor ein paar Monaten porträtierte die Stuttgarter Zeitung junge Menschen aus der Com­munity. Eine Studentin aus Mannheim berichtete, dass sie das erste Mal mit 19 Jahren of­fenbart hat, dass sie eine Romni ist. Für sie war es ein Outing. Eines, das ihre Eltern nicht gewagt hatten. Ihre Mutter leitete ein Einzelhandelsgeschäft.

Zitat aus dem Artikel: „Sie hatte mit Geld zu tun. Da kannst du es nicht öffentlich machen.“ Diese Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen. Laut einer aktuellen Studie der Uni Leipzig stimmen mehr als die Hälfte der Befragten der Aussage zu, Sinti und Roma neigten zur Kriminalität.

Vorurteile sind auch in der so genannten Mitte der Gesellschaft weit verbreitet. Umso aktiver müssen wir als Politik und Gesellschaft werden, solche Stigmata zu be­kämpfen. In dem Artikel der Stuttgarter Zeitung kommt auch die Sinteza Esther Rein­hardt-Bendel zu Wort. Frau Reinhardt-Bendel zeigt sich. Sie erhebt ihre Stimme. Vor gut zehn Jahren hat sie die Initiative „Sinti und Roma Pride“ mitgegründet. Im Artikel der Stuttgarter Zeitung erklärte sie ihr Motiv. Ich zitiere:

„Nach fast 700 Jahren in Deutschland fände ich es langsam mal angebracht, dass die Leute wenigstens wissen, wer wir sind, ohne dass wir sagen müssen, wir seien Zigeuner.“

Ich bewundere Frau Reinhardt-Bendels Kraft, sich Abwertungen offensiv entgegenzu­stellen. Es muss jedoch unser gemeinsames Ziel sein, dass es in unserer Gesellschaft keine Mutprobe sein sollte, zur eigenen Identität zu stehen. Es muss selbstverständliche Normalität sein. Das trifft den Kern unseres Gedenkens.

Wir streben nach einer Gesellschaft, in der man ohne Angst sagen kann, wer man ist – und dabei verstanden wird. Verständnis und Anerkennung entsteht, wenn wir uns der Geschichte stellen. Wenn wir die Geschichten von Minderheiten kennen und sie zu einem Teil unserer ge­meinsamen Identität machen. Zu einem Teil einer offenen Gesellschaft der Vielen ma­chen, in der wir unterschiedlich sein dürfen, weil wir uns respektvoll begegnen. Dieses Potential steckt in uns. Eine lebendige Erinnerungskultur bringt es zur Entfaltung, ge­nauso wie die Auseinandersetzung mit unserem wunderbaren Grundgesetz.

Seien wir stolz auf diese Werte. Leben wir sie. Das Gedenken heute ist ein Teil davon. Lassen Sie uns zurückblicken, um gemeinsam nach vorne zu schauen.

Vielen Dank.

Liebe Gäste,

der Tag hat gezeigt: Gedenken ist zeitlos und wichtig. Ich danke allen Beteiligten, die es virtuell möglich gemacht haben. Den Menschen hinter den Kulissen, die den Tag vorbereitet und umgesetzt haben.

Den Musikerinnen und Musikern:

Aaron Weiss am Klavier

Sunny Franz an der Violine

Ich danke

Frau Dr. Fings

Herrn Strauß und

Herrn Oberbürgermeister Dr. Rapp

für ihre Ansprachen.

Den Macherinnen und Machern des Films:

Madeleine Kehrer

Muischa Corca Klibisch

Armani Spindler

Robert Trapp

Sarah Franz und

Magdalena Guttenberger

Ganz besonders danke ich Frau Zilli Schmidt, die als Zeitzeugin und Auschwitz-Überle­bende den jungen Filmemacherinnen und Filmemachern die Tür zu ihrer Wohnung in Mannheim geöffnet hat. Schon seit vielen Jahren teilt sie ihre Lebensgeschichte mit den Menschen und bekämpft so Hass, Hetze und Ausgrenzung. Sehr geehrte Frau Schmidt, dafür danke ich Ihnen von Herzen sehr!

Sie alle haben uns vor Augen geführt:

Lehren für Gegenwart und Zukunft sind der Kern von Erinnerung.

Danke für Ihre Beiträge und ihre Stimmen.

Danke Ihnen, liebe Gäste an den Bildschirmen, dass Sie dabei waren.