12. Oktober 2024

Zivilgesellschaftliches Engagement als Fundament unserer Demokratie

[Anrede]

 

Ihr wunderbarer Verein, AMSEL e. V., wird 50 Jahre alt. Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Und Sie sind in bester Feier-Gesellschaft, dieses Jahr feiert auch unser Grundgesetz ein sehr bedeutsames Jubiläum. Die 75-jährige Erfolgsgeschichte unserer Verfassung wäre nicht möglich gewesen ohne das, was ich als Demokratie des Alltags bezeichne, die vielen Millionen kleinerBeiträge zu unserer Demokratie. Dazu gehören besonders auch die Vereine, die unter dem Schutz des Grundgesetzes stehen, und die den Schatz des Engagements ganz besonders in sich tragen. Und dazu gehört die Leistung der Einzelnen, die Leistungaller Teile der Gesellschaft, die großartige Leistung von Ihnen allen. Und für die gilt Ihnen große Hochachtung und mein aufrichtiger Dank! 

 

Bereits die Gründungsmütter und -väter sahen die Zivilgesellschaft als wichtiges Fundament unseres politischen Systems. Warum? 

 

Ernst-Wolfgang Böckenförde, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, beschreibt das grundlegende Dilemma der Demokratie: In seinen Worten "[lebt] der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Damit Demokratie funktioniert, müssen die Menschen, die in ihr leben, von sich aus überzeugt sein, das auch zu wollen. 

 

Der Philosoph Jürgen Habermas würde sagen, der zwanglose Zwang des besseren Argumentes muss sich hier durchsetzen. In anderen Worten: Demokratie fällt nicht vom Himmel. Demokratie ist so stark, wie die Demokratinnen und Demokraten, die sie schätzen, schützen und immer wieder nachjustieren. Jede Generation steht vor neuen Herausforderungen, die sie zu meistern hat. Und am besten sammelt man zuerst im Kleinen Erfahrungen, wie das Zusammenleben funktioniert, zum Beispiel in Vereinen. 

 

Vereine, meine Damen und Herren, existieren seit Jahrhunderten. Sie sind und waren ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Die Revolution von 1848 ging in Baden vor allem von den neu gegründeten Gesangs- und Turnvereinen aus. Ihr Zweck war, wie die Namen sagen, ursprünglich nicht politisch. Allerdings kamen die Menschen in den Vereinen zusammen. Sie erhielten eine Plattform, um Ideen auszutauschen. Unter anderem die Idee von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, die zu dieser Zeit aus dem Nachbarland Frankreich herüberschwappte. 

 

Fast 200 Jahre später sind Vereine immer noch ein Ausdruck einer engagierten Zivilgesellschaft und des gesellschaftlichen Zusammenhaltes. Vereine stärken das Zusammenleben und bringen ganz unterschiedliche Menschen zusammen, die aber ein gleiches Interesse, ein gleiches Ziel teilen. Menschen, die aber sonst eine sehr unterschiedliche Lebensgeschichte haben können, sie stammen aus anderen Berufen, haben eine andere Ausbildung, ein anderes Geschlecht, eine andere Religion, eine andere kulturelle Prägung. Und was man kennt, fürchtet man weniger, der wichtigste Schritt hin zu Respekt, Toleranz und Akzeptanz. 

 

Vereine sind Integrationskatalysatoren – nicht nur für Menschen außerhalb Deutschlands. Für die meisten Menschen sind Vereine, zum Beispiel nach einem Umzug, oft die erste Anlaufstelle, um Anschluss zu finden. Nicht zuletzt geben Vereine viel zurück, auch wenn es manchmal sehr zeitintensiv ist. In ihnen kann man sich selbst verwirklichen und ist Teil einer Gemeinschaft. Davon später mehr.

 

Vieles davon spiegelt sich direkt in Ihren Vereinszielen wieder. Da sind die Wissensvermittlung und Aufklärung, die Verbesserung des Zusammenlebens von Gesunden und Kranken sowie die Integration von MS-Kranken in Beruf und Gesellschaft. Als ganz grundlegend sehe ich die Wissensvermittlung an. Gerade bei komplexen und unheilbaren Krankheiten wie Multipler Sklerose, überwiegt bei Betroffenen in der ersten Reaktion oft die Verunsicherung und die Angst vor dem Unbekannten. Angst ist nie ein guter Ratgeber. Angst lässt jeden innerlichen Kompass im Kreis spinnen, unabhängig davon, ob wir eine schlechte gesundheitliche Diagnose erhalten, uns über die eigene finanzielle Zukunft Gedanken machen oder Entwicklungen in der Gesellschaft bewerten. Was uns in diesen Situationen wieder einnordet, ist Wissen. 

Zum einen das Wissen um unsere Handlungsoptionen. In Analysen zur aktuellen Lage der Gesellschaft fällt oft das Wort orientierungslos. Nach der Trendstudie „Jugend in Deutschland“ glauben nur 40 Prozent der befragten 14- bis 29-Jährigen, dass der Klimawandel noch eingedämmt werden kann. Die Mehrheit der jüngeren Generationen sieht überhaupt keine Möglichkeit mehr Einfluss zu nehmen. Wieso sollten sie dann überhaupt noch Handeln? Derartige Beispiele nehmen zu und betreffen nicht nur die junge Generation. Die Kriege im Nahen Osten und der Ukraine sind medial allgegenwärtig. Die Volkswirtschaft stagniert, dafür stiegen die Preise. Da fragen sich viele: Was kann ich hier alleine noch bewirken? 

 

Laut dem Verhaltenswissenschaftler Alexander Batthyány führt das zu „Ablehnung als Lebenshaltung“. Dabei geht es nicht mehr um die Ablehnung von konkreten Vorhaben, sondern um eine Grundhaltung, die der Angst vor Kontrollverlust und fehlender Sinnhaftigkeit entspringt. Deshalb ist es für uns alle so wichtig, unsere Handlungs- und Einflussmöglichkeiten zu kennen. Im Großen wie im Kleinen. Die AMSEL leistet dazu einen ganz konkreten Beitrag. Sie geben Menschen das Wissen, mit ihrer Krankheit zu leben, nicht die Kontrolle zu verlieren und ein selbstbestimmtes, sinnhaftes Leben zu führen. Damit behalten MS-Kranke ihren Platz in der Gesellschaft.

 

Zum anderen geht es um das Wissen über die Lebensrealität der Anderen. Wir reden anders über Geflüchtete, wenn wir mittwochs mit Tamina aus Kabul Fußball spielen 

und am Wochenende mit Artem aus Odessa einen Stand beim Festival der Kulturen betreuen. Oder wir verstehen die komplexen politischen Entscheidungsfindungen nach einem Praktikum im Parlament. Und wenn wir die Realitäten unserer Mitmenschen kennen, können wir uns besser auf sie einstellen und Interessen ausgleichend berücksichtigen. Auch hier leistet die AMSEL ihren Beitrag: Sie unterstützt Angehörige von MS-Kranken, die neue Lebenssituation gemeinsam zu meistern. 

 

Und die Amsel macht die Menschen hinter den Symptomen im Stadtbild sichtbar. Ihre Kampagne „Meine Zukunft mit MS“ ist wunderbar. Sie fällt positiv auf und vermittelt eine Botschaft: Hinter den Symptomen stehen Menschen, die mitten im Leben stehen. Sie fördert das Verständnis, wie die Menschen ihre Träume und Visionen leben. Sie macht aber auch Mut für Neuerkrankte: Das Leben geht weiter, trau dich nach Unterstützung zu fragen, das stehen wir gemeinsam durch. 

 

Das Wissen um die eigenen Handlungsoptionen und das Wissen um die Lebensrealität der Anderen sind Voraussetzung, dass der demokratische Diskurs funktioniert und damit ein Konsens möglich ist. 

 

Meine Damen und Herren, hier kommen Sie, als Vertreter der engagierten Zivilgesellschaft, wieder ins Spiel. Machen Sie weiter wie bisher, bieten Sie eine Plattform, durch die sich Menschen einbringen und sich als Teil einer Gemeinschaft erfahren können. Das Erlebnis, aus eigener Kraft und im Schulterschluss in einem Team etwas zu bewegen, ist etwas Großartiges und kann Berge versetzen. Es gibt Menschen wieder das Vertrauen in die Gesellschaft und den MS-erkrankten Menschen ein Gesicht. Man spricht wieder miteinander, statt übereinander. Wir lernen anderen Menschen offen zu begegnen, da der Verein uns einen sicheren Ort der Begegnung bietet. Wir lernen, uns gemeinsam für eine Sache einzusetzen, die größer ist als wir selbst. Im Verein erfahren wir, Kompromisse einzugehen, Mehrheitsbeschlüsse zu respektieren, und konstruktiv zu streiten. Wir erleben, gemeinsam sind wir stärker als allein. Das ist gelebte Demokratie! 

 

Wir alle wissen, unsere Demokratie steht vor großen Herausforderungen. Und in diesen Zeiten brauchen Menschen mehr denn je Sicherheit und Stabilität. Sie müssen sich auf die Leistungsfähigkeit und Stärke unseres demokratischen Staates verlassen können, auch in sozialen Fragen. Das verlangt unser Grundgesetz. 

 

Nach Artikel 20 ist Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Sehen Sie, wie eng verbunden Vereine wie AMSEL und unsere Verfassung sind? 

 

Als Verein stärken Sie die Zivilgesellschaft, als Fürsprecher stärken Sie Menschen mit MS den Rücken, gleichberechtigt und in Würde an unserer Gesellschaft teilzunehmen. In der Praxis ein langer Weg mit vielen Hindernissen. 

 

Dennoch, die verbrieften Rechte auf Gleichbehandlung sind eine Errungenschaft, auf die wir stolz sein können. Und alle Parteien, die auf dem Boden der Verfassung stehen, müssen sich gegen Kräfte stellen, die dieses gesellschaftliche Grundrecht in Abrede stellen. 

 

Dieses Aufbegehren ist beispielsweise dann geboten, wenn jemand wie Björn Höcke behauptet, Inklusion sei eine Belastung für die Gesellschaft. Damit sagt er, Menschen mit Beeinträchtigung seien eine Belastung für unsere Gesellschaft. Damit stellt er sich gegen das Grundgesetz, das richtigerweise formuliert: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Menschen mit Beeinträchtigung als Menschen zweiter Klasse zu definieren, kennen wir aus der Geschichte. Das muss uns eine Warnung sein. 

 

Die soziale Absicherung von Bedürftigen, deren soziale Teilhabe, darf nicht gegen andere wichtige Anliegen der Gegenwart ausgespielt werden. Dazu zählen auch Langzeitkranke, die deswegen in ihrer Erwerbstätigkeit eingeschränkt sind. Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung etwa zeigt, nur 8 Prozent der Wohlhabenden haben ein geringes Vertrauen in unser Rechtssystem, aber fast 37 Prozent der dauerhaft Armen! Über 47 Prozent von ihnen haben auch ein geringes Vertrauen in den Bundestag, bei den Wohlhabenden sind es knapp 19 Prozent. Dabei sind Parlament und Rechtsstaat das Herz unseres politischen Zusammenlebens. 

 

In Anbetracht dieser Zahlen erscheinen die zunehmend lauter werdenden Stimmen, die eine deutliche Reduzierung sozialstaatlicher Leistungen einfordern, als sehr problematisch und durchaus gefährlich. Wenn wir an dieser Stelle sparen, kommt uns das an anderer Stelle als Gesellschaft teuer zu stehen. Denn dadurch erstarken Extremisten. Eine finanzielle Vollbremsung in sozialen Fragen gefährdet unsere Demokratie, davon bin ich überzeugt! Unser Grundgesetz basiert auf der Idee, dass alle Menschen politische und soziale Teilhabe erfahren. Diese Idee gilt es zu verteidigen, zu stärken und in die Tat umzusetzen. 

 

Hoffnungsvoll stimmen mich Veranstaltungen wie heute Abend hier bei Ihnen. Hoffnungsvoll stimmen mich Menschen wie Ursula Späth, der wir die Gründung des Vereins zu verdanken haben. Ihr herausragender Einsatz bei der finanziellen Rettung der AMSEL Anfang der 80er Jahre und ihr unermüdliches Engagement während ihrer 40-jährigen Schirmherrschaft ist eine großartige Leistung und eine Bereicherung für unser Gemeinwesen.

 

Ursula Späth und Sie alle, sehr geehrte Damen und Herren, stehen stellvertretend für unsere sehr aktive Zivilgesellschaft. Fast jeder zweite Mensch über 14 Jahren in Baden-Württemberg engagiert sich ehrenamtlich, das ist absolute Spitze im Vergleich der Bundesländer. Mehr als 300 sind es allein bei der AMSEL. Sie übernehmen Verantwortung, sie treiben Ihre Vision voran, sie wollen etwas zum Guten verändern. Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit am Fundament der Demokratie und als Anlaufstelle für viele Menschen, die aufgrund ihrer Gesundheit Orientierung und Unterstützung suchen. Bleiben Sie engagiert. Vielen Dank.