Landtagspräsident Klenk: Wir werden nicht zulassen, dass Menschenhass und Menschenverachtung Raum greifen

Es gilt das gesprochene Wort!

Ludwigsburg/Stuttgart. 71 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz hat der Landtag von Baden-Württemberg am Mittwoch, 27. Januar 2016, mit einer zentralen Gedenkfeier im Forum am Schlosspark in Ludwigsburg an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Ein besonderes Augenmerk galt in diesem Jahr den Überlebenden des Nazi-Regimes und deren Familien. Wahres Gedenken entstehe erst dadurch, dass man sich in die Lage der Opfer hineinversetze, betonte Landtagspräsident Wilfried Klenk (CDU) in seiner Rede. Nur wer sich vergegenwärtige, was gewesen und vor allem wie es dazu gekommen sei, wisse auch, was nie wieder sein dürfe und folglich von uns allen verlangt werde. „Die definitive Botschaft lautet: Wir dürfen und werden nicht zulassen, dass Menschenhass und Menschenverachtung in unserer Gesellschaft Raum greifen“, so Klenk. Im Einzelnen führte der Landtagspräsident aus:

>>„Befreit“ heißt nicht: „erlöst“! Das ist kein Wortspiel – das ist ein Aspekt, den wir uns bewusst machen müssen, wenn wir dem gerecht werden wollen, was der heutige „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ von uns fordert.

Der – 1938 in die USA emigrierte – Philosoph Theodor W. Adorno sagte 1949: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Diese provokante Äußerung wurde in der Kulturwelt heftig diskutiert. Sie weist aber in ihrem Kern eindrucksvoll hin auf die menschlichen Verheerungen, die eben nicht dadurch beendet waren, dass die Alliierten in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs die Vernichtungs- und Konzentrationslager, die Mord-, Folter- und Zwangsarbeitsstätten als Befreier erreichten.

Das „Leben danach“ war und ist für die Überlebenden und für die Angehörigen der Opfer ein Martyrium eigener Art. Angesichts ihrer körperlichen und seelischen Wunden. Angesichts des Desinteresses, das ihnen widerfuhr. Und angesichts des Vorenthaltens von Anerkennung und Gerechtigkeit.

In einem Sammelband, der die persönlichen Erinnerungen von Auschwitz-Überlebenden dokumentiert, finden sich die Sätze: „Niemand wollte seine Geschichten hören, er aber konnte nicht aufhören, sie zu erzählen. Man glaubte ihm nicht, dabei hatte er noch längst nicht alles erzählt.“ Genau diese Geschichten, meine Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler: Genau diese Geschichten – wollen und müssen wir hören! Ihnen haben wir deshalb dieses Jahr die offizielle Gedenkstunde des Landtags von Baden-Württemberg am „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ gewidmet. Auch ich begrüße Sie alle, meine Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler, auf das Herzlichste dazu! Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Sie setzen damit ein Signal, das in diesen bewegten Wochen wichtiger ist denn je! Haben wir doch bei der Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden in diesen Wochen nicht zuletzt unsere besondere geschichtliche Verantwortung vor Augen.

Dank bekunde ich Ihnen, Herr Oberbürgermeister Spec – und zwar nicht nur für die freundliche Aufnahme heute Nachmittag, vielmehr ebenso für die ausgesprochen kooperative Unterstützung bei der Vorbereitung. Die Stadt Ludwigsburg hat sich die Veranstaltung nachgerade mit zu eigen gemacht. Auch das: ein wohltuendes Zeichen!

Ganz besonders verbunden für ihre Anwesenheit und für ihre Mitarbeit im Vorfeld bin ich den genannten Vertreterinnen und Vertretern der Opferorganisationen. Diese jährliche Gedenkstunde an wechselnden Orten und mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten wird stets im allseitigen Einvernehmen konzipiert. Ein Engagement, das nach außen unsichtbar bleibt. Ich möchte deswegen allen Beteiligten heute einmal öffentlich dafür danken.

Das gemeinsame Planen dieser Veranstaltung ist für den Landtag als Mit-Träger einer nachhaltigen Gedenkkultur stets aufs Neue einerseits Verpflichtung und andererseits Bestätigung. Mit höchstem Respekt heiße ich natürlich heute Nachmittag die Mitwirkenden willkommen:

– Sie, Frau Mechelhoff-Herezi, von der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ aus Berlin; und Sie, Herr Slupina, von den Zeugen Jehovas, beleuchten in Ihren Redebeiträgen unser Thema im Einzelnen; und Sie stimmen uns so auch ein
– auf das Gespräch mit Ihnen, Herr Speidel, und Ihnen, Herr Selbiger, als Opfer – der gängige Begriff „Zeitzeugen“ ist eigentlich viel zu schwach.

Dass Sie beide – Herr Speidel, Herr Selbiger – unter uns sind, ist für uns eine besondere Ehre. Sie schildern im Gespräch mit Frau Mechelhoff-Herezi, wie Sie seit sieben Jahrzehnten mit dem leben, was Ihnen und Ihren Familien angetan worden ist. Ihre Erfahrungen sollen und werden uns bewegen – wahres Gedenken entsteht eben erst durch persönliche Empathie! Impulse, die uns menschlich berühren und in unserer Wehrhaftigkeit als Demokraten emotional ermutigen, können wir auch empfangen durch die Mittel der Kunst.

Die Musikstücke, die wir hören, wollen nicht klingendes Beiwerk, sondern substanzieller Beitrag sein. Die Kompositionen werden auf der Rückseite des Programmblatts erläutert. Herzlichen Dank: Aaron Weiss, Klavier; und Sandro Roy, Geige.

Beeindrucken werden uns aber vor allem zwei Aufführungen der „Kunstschule Labyrinth“ hier aus Ludwigsburg. Die Szenen sind Teil eines inklusiven Theaterprojekts von jüngeren und älteren Menschen mit und ohne Behinderungen unter Leitung von Ihnen, Frau Sponner. Sie versinnbildlichen damit den übergreifenden Charakter unseres Innehaltens.

Denn wir gedenken aller von den Nazis Entrechteten, Gequälten und Ermordeten: der europäischen Juden, der Sinti und Roma, der Jenischen, der Zeugen Jehovas, der Millionen verschleppter Slawen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Homosexuellen, der politischen Gefangenen, der Kranken und Behinderten, all derer, die zu Feinden erklärt worden waren und gnadenlos verfolgt wurden.

Wir erinnern heute auch an diejenigen, die mutig Widerstand leisteten oder anderen Schutz und Hilfe gewährten und dafür selbst oft mit ihrem Leben bezahlen mussten.

Und unsere Gedanken sind – ich habe es betont –

·     bei all denen, die überlebt haben, aber zutiefst gezeichnet gewesen und geblieben sind;
·     sowie bei allen, deren Familiengeschichte vom Verlust ihrer Angehörigen und Freunde geprägt ist.

Das Vernichtungslager Auschwitz – Inbegriff der Nazi-Gräuel: Heute vor 71 Jahren wurde es von der „Roten Armee“ befreit. Führen wir uns – in Trauer und schmerzender Scham – jene überzeitlichen Bilder vor Augen, die sich den Soldaten boten – die Bilder der Leichenberge, die Bilder der Massengräber, die Bilder der völlig ausgemergelten Überlebenden, denen das Menschsein erst zurückgegeben werden musste.

Aber wir vergessen darüber nicht das Netz von Lagern, das die Nationalsozialisten über ganz Europa spannten, ihre enthemmte Brutalität bei der Unterwerfung großer Teile des Kontinents mit Hinrichtungen, Massenerschießungen, der Einrichtung von Ghettos und gnadenloser Hungerblockade. Und wir erinnern uns daran, dass dem in Deutschland bereits früh die schrittweise Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung vorausgegangen war – für alle sichtbar, die sehen wollten: für Nachbarn, Kollegen, Verwandte und Bekannte!

Vor zwanzig Jahren – 1996 – hat der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ erklärt. Jetzt – also nach zwei Jahrzehnten – dürfen wir feststellen: Diese Initiative hat die Entwicklung einer vielfältigen, oft bürgerschaftlich getragenen Gedenkkultur nachhaltig gefördert. Wir schulden unserer Geschichte, dass wir uns in jedwede Richtung und gegen sämtliche Feinde der Freiheit als wehrhaft erweisen. Und besonders wehrhaft gegen alle Hetzer, Rassisten, Antisemiten.

Am 27. Januar bekennen wir uns deshalb zu den universellen, unveräußerlichen Grundlagen unseres Zusammenlebens. Und wir reflektieren immer wieder neu, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Unsere Entschiedenheit soll dabei zeigen, dass Erinnern, dass vor allem Empathie mit den Opfern der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat und das Menschenbild unseres Grundgesetzes trägt. Wir spüren dabei, wie schäbig und wie selbstschwächend das allgemein akzeptierte Verdrängen und Relativieren der Nazi-Gräuel in den Nachkriegsdekaden gewesen ist.

Nur wer sich vergegenwärtigt, was war und vor allem: wie es dazu kam, der weiß auch, was nie wieder sein darf – und was folglich von uns allen verlangt ist. Diese Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit gelingt bereits auf vorbildliche Art in unseren Schulen. Wobei das Prädikat „vorbildlich“ meint: Erinnern darf nicht ausgrenzen – Erinnern soll einladen!

Wir alle müssen uns klarmachen: Demokratie ist eine geistige Haltung und eine tolerante Lebenseinstellung, mit der sämtliche Formen von Rassismus, Antisemitismus, Extremismus oder Fundamentalismus unvereinbar sind. Die definitive Botschaft lautet: Wir dürfen und werden nicht zulassen, dass Menschenhass und Menschenverachtung in unserer Gesellschaft Raum greifen!

Unser gemeinsames Erinnern heute am „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ soll unser Denken und Handeln an den ethischen Maßstäben, moralischen Werten und politischen Ordnungsvorstellungen ausrichten, die in der Summe ein friedliches Zusammenleben ermöglichen, unsere Freiheit und unseren Rechtsstaat sichern und damit die Humanität unseres Gemeinwesens garantieren. Erinnern heißt: sich bewähren wollen – und es auch zu tun! Gerade jetzt: im Jahr 2016!<<

Weiteres Programm

Begonnen hatte die Feierstunde mit einem Grußwort des Ludwigsburger Oberbürgermeisters Werner Spec. Nach Landtagspräsident Klenk sprachen Wolfram Slupina von der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen und Jana Mechelhoff-Herezi von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Es folgte ein Gespräch mit den beiden Zeitzeugen Werner Speidel, Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen aus Stuttgart, und Horst Selbiger, Ehrenpräsident von Child Survivors Deutschland e.V. in Berlin. Danach führte die Kunstschule Labyrinth Ludwigsburg Szenen aus dem inklusiven Generationentheaterprojekt „Tell – Der Apfelschuss“ auf.

Im Anschluss waren alle Besucherinnen und Besucher zu Gesprächen und Begegnungen eingeladen. Bei dieser Gelegenheit informierten Opferorganisationen an Ständen über ihre Arbeit. Des Weiteren wurde die Ausstellung „Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime“ gezeigt. Zu sehen bekamen die Teilnehmer der Veranstaltung auch Aquarelle des ehemaligen KZ-Häftlings Johannes Steyer und einen Gemäldezyklus des Künstlers Heinz Tetzner. Musikalisch umrahmt wurde die Gedenkfeier von Aaron Weiss (Komponist, Pianist) und Sandro Roy (Geige).