Landtagspräsident Straub beim Gemeindetag Baden-Württemberg:
Wer die Kommunen vernachlässigt, betreibt keine nachhaltige Politik Es gilt das gesprochene Wort! Stuttgart/Bietigheim-Bissingen. Bei der Kommunalpolitischen Kundgebung des Gemeindetags Baden-Württemberg am Mittwoch, 15. Oktober 2003, im Kronenzentrum Bietigheim-Bissingen sprach Landtagspräsident Peter Straub (CDU) folgendes Grußwort: >>Von Lech Walesa stammt der Satz: „Der Mensch ist nicht frei, wenn er einen leeren Geldbeutel hat.“ Sinngemäß gilt diese Erkenntnis natürlich auch für die Städte und Gemeinden: Sind die Stadt- beziehungsweise Gemeindekassen leer, steht die Kommunalfreiheit nur auf dem Papier. Alexis de Tocqueville hat schon vor 150 Jahren gewarnt: "Man beseitige die Stärke und die Freiheit der Gemeinde - und man wird nur noch Verwaltungsobjekte und keine Staatsbürger finden." Das Motto dieser Kundgebung übertreibt daher nicht: „Ohne Gemeinden ist kein Staat zu machen“. Also gilt es zu erkennen und zu konzedieren: Die Krise der Städte und Gemeinden schwächt unweigerlich und sehr schnell die Substanz der Länder und des Bundes. Noch zählt das, was die Kommunen an Infrastruktur und Lebensqualität bieten können, zu den rar gewordenen deutschen Trumpfkarten im internationalen Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte. Aber welches Unternehmen siedelt sich schon an, wo es teuer ist und wo man trotzdem den Abwärtstrend mit Händen greifen kann, weil die Schulen und die kulturellen Einrichtungen verfallen? Auf den Punkt gebracht, heißt das: Wer die Kommunen vernachlässigt, betreibt keine nachhaltige Politik. Es liegt somit im ureigenen Interesse des Bundes und der Länder, als Teil der überfälligen Restrukturierung unseres - sich selbst blockierenden - Staatsgefüges die Kommunalfreiheit zu revitalisieren durch eine langfristige Stabilisierung der Einnahmestrukturen und durch das Wiederherstellen kommunaler Handlungsspielräume. Revitalisierung der Kommunalfreiheit verlangt mithin: weniger Fremdbestimmung, sondern mehr politisches Vertrauen in die Kompetenz und das Verantwortungsbewusstsein der kommunalen Entscheidungsträger - und zwar hinsichtlich der Aufgaben, hinsichtlich der gebotenen Standards und – wie ich meine – ebenso in Bezug auf die Gestaltung der Einnahmen. Der Verteilungswirrwahr, die Anonymität der Finanzströme, die Mechanismen von Umlagen und Zuweisungen, die selbst von gestandenen Stadt-, Gemeinde- und Ortschaftsratsmitgliedern nicht mehr zu durchschauen sind – all das ist doch Teil jener Degradierung zum Objekt, von der Tocqueville gesprochen hat. Und das bedeutet auch: Es ist zweifellos unausweichlich, dass man sich in Berlin zu einer Notoperation aufrafft und an den vorhandenen Stellschrauben im Sinne der Kommunen dreht. Ein „regelungstechnischer Eingriff“ zur Abwendung des finanziellen Crashs darf aber nicht zum Vorwand werden, eine grundlegende Reform des Systems auf die lange Bank zu schieben. Denn – und ich wiederhole mich gerne - unsere Demokratie leidet in ihrem Wesensgehalt, wenn sich bei den Bürgerinnen und Bürger der Eindruck verfestigt, dass sich ein Engagement in den Gemeinde- und Ortschaftsräten nicht länger lohnt, weil Kommunalpolitik vor allem im Vollzug fremder Vorgaben und im Verwalten eines durch eigene Weichestellungen nicht abwendbaren Mangels besteht. Bei allen schweren Problemen, die uns bedrücken, sollten wir freilich nicht übersehen, dass es auch positive Entwicklungen gibt. Ich meine speziell den Verfassungsentwurf, den der EU-Verfassungskonvent erarbeitet und vorgelegt hat. Die Kommunen werden danach auf EU-Ebene kein Schattendasein mehr führen: Die regionale und kommunale Selbstverwaltung wird als ein Element der nationalen Identität der Mitgliedstaaten geachtet. Die Kommunen genießen dann den Schutz durch das Subsidiaritätsprinzip. Sie erlangen also einen europa-rechtlichen Status; sie sind offizielle Gesprächspartner; und sie können über den Ausschuss der Regionen ihre Rechte einklagen. Dieses Ergebnis ist nicht vom Himmel gefallen. Wir verdanken es kausal dem Vertreter des Deutschen Bundesrats im EU-Verfassungskonvent, also Ihnen, Herr Ministerpräsident, Ihrer Ausdauer, Ihrem Verhandlungsgeschick und speziell Ihrer spezifischen Überzeugskraft – was übrigens auch beweist, dass selbst auf dem internationalen Parkett eine kommunalpolitische Prägung durch nichts zu ersetzen ist. Nicht ganz so glücklich können wir alle freilich darüber sein – und Sie, Herr Ministerpräsident, haben es auch im Juli vor dem Landtag kritisch beleuchtet - , dass nach dem Verfassungsentwurf die Grundsätze und Bedingungen für die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse durch europäisches Gesetz festgelegt werden können. Gemeint sind speziell jene Aufgaben der Daseinsvorsorge, die typischer Weise vor Ort in den Kommunen angeboten und geregelt werden, etwa die Wasserversorgung, die Abwasser- und Abfallentsorgung oder die Kindergärten und Schwimmbäder. Dieser Passus im Verfassungsentwurf bereitet Sorge. Sorge vor einer Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung; Sorge vor pauschalen Regelungen, die den örtlichen Besonderheiten nicht gerecht werden können; Sorge vor dem Verlust am Gemeinwohl orientierter Steuerungsmöglichkeiten. Diejenigen, die den Passus in letzter Minute durchgesetzt haben, interpretieren ihn jedoch defensiv – sprich als Gesetzesvorbehalt und als Schutz vor einem eigenmächtigen Handeln des EU-Kommissars für Wettbewerbsfragen. Ich sage deswegen: Wenn der Verfassungsentwurf generell überarbeitet wird, dann muss auch hier der Hobel angesetzt werden. Wenn der Verfassungsentwurf dagegen – was aus übergeordneten Gründen zu hoffen ist – unverändert bleibt, dann müssen wir künftig alles dafür tun, dass sich diese defensive Sichtweise auf Dauer durchsetzt. Und die erste Nagelprobe ist ja absehbar, da man in Brüssel die Ausgestaltung der Wasserversorgung ins Visier genommen hat. Trinkwasser ist indes das wichtigste Lebensmittel. Es kann als einzige Ressource nicht durch andere ersetzt werden; es muss daher voll der öffentlichen Verantwortung unterstellt bleiben. Doch für ein solches Denken fehlt manchen anscheinend die nötige Sensibilität. Dabei braucht man nur nach Großbritannien zu blicken, wo ein national liberalisierter und zum größten Teil privatisierter Wassermarkt den Bürgern deutlich höhere Wasserpreise, schlechtere Wasserqualität, schlechteren Service und marode Wasserleitungen beschert hat. So oder so: Die europäische Verfassung ist unsere Zukunft. In der momentanen Situation gilt aber mit besonderer Prägnanz das Wort von Manfred Rommel: „Wer die Zukunft erreichen will, muss die Gegenwart überstehen“.Die zurückliegenden Wochen und Monate lehren dazu mindestens zweierlei. Zum einen, dass Kommunen, Bund und Länder den Streit nicht auf die Spitze treiben sollten – denn dann verlieren sehr schnell alle drei. Und die andere Lehre ist, dass die allgemeine Verunsicherung durch ein verlässliches politisches Arbeiten abgebaut werden muss: Es darf nicht sein, dass jeden Tag neue Hiobsbotschaften verkündet werden; dass es jeden Tag neue Pläne gibt, die den Abend des nächsten Tages nicht erleben; dass jeder Vorschlag reflexartig – am liebsten vor laufenden Kameras - ohne Kompromissbereitschaft abgeblockt wird. Alle Beteiligten müssen sich immer auch um ein gedeihliches, von Fairness geprägtes Klima bemühen. Mein Anliegen war, durch dieses Grußwort namens des Landtags einen kleinen Beitrag dazu zu leisten. Ich hoffe, es ist mir gelungen.