Grußwort der Präsidentin zum Empfang der Stadt Heidelberg aus Anlass der Gedenkstättenreise am 29.7.2022 im Ratssaal des Rathauses Heidelberg

Sehr geehrte Damen und Herren,
Ihnen allen einen schönen, guten Abend. Ich freue mich sehr, hier zu sein. Seien Sie herzlich willkommen.
Stellvertretend für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt danke ich Ihnen, Herr Bürgermeister Odszuck, sehr herzlich für die Zusammenarbeit bei dieser Veranstaltung. Vielen Dank auch für Ihre Begrüßung sowie für Ihre einführenden Worte.
Sehr geehrte Frau Professorin Penter,
vielen Dank bereits jetzt für Ihren Vortrag. Ich bin sehr gespannt auf Ihre Ausführungen zum Thema „Der Krieg in der Ukraine. Geschichtsnarrative und Erinnerungskonflikte“.
Erinnerung ist nie statisch und sollte es auch nicht sein. Sie steht immer in Beziehung zur Gegenwart. Bezogen auf unsere hiesige Perspektive, bezogen auf unsere eigene Sicht, auf unsere Geschichte, erlebe ich das gerade hautnah. Dieser Abend ist Teil meiner Informationsreise zu Gedenkstätten in der Region. Eingeladen haben wir Sie, liebe Gäste, weil Sie Akteurinnen und Akteure für eine offene, vielfältige Gesellschaft ohne Ausgrenzung sind. Beides hängt unmittelbar zusammen. Diesen Zusammenhang sichtbar zu machen, das sehen auch die Gedenkstätten, die ich in den vergangenen Jahren besucht habe, als ihre Kernaufgabe an. Sie erinnern an die Schrecken der Vergangenheit, damit wir als Gesellschaft heute den Mechanismen von Hass, Hetze und Ausgrenzung konsequent entgegentreten. Erinnerungsarbeit ist ein wichtiger Pfeiler im Kampf gegen Rassismus und Ausgrenzung. Wir sollten beides zusammendenken. Der Abend heute ist eine Gelegenheit, diesen Ansatz zusammen zu diskutieren. Ich freue mich auf den Austausch.
Meine Damen und Herren,
Erinnerungsarbeit ist zugleich Prävention gegen Propaganda. Wer unsere Geschichte kennt, wird denen nicht auf den Leim gehen, die sie verdrehen. Dieser Verantwortung kommt auch das Parlament nach. Auch der Landtag ist ein Ort der Erinnerung. Dort präsentieren wir seit einigen Jahren ein Gedenkbuch, das die Geschichten von Abgeordneten erzählt, die während der NS-Diktatur geächtet waren und teilweise ermordet wurden.
Über diesem Zeugnis der Verfolgung prangt der erste Artikel unserer Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Denn beides – Erinnerung und unsere Grundwerte –gehören zusammen: Unser Grundgesetz ist eine Antwort auf den Zivilisationsbruch der NS-Zeit. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist eine Folge der Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus.
Artikel 3, – das Verbot von Diskriminierung aufgrund äußerer Merkmale – steht deshalb so prominent im Grundgesetz, weil die rassistische NS-Ideologie unser Land – und ganz Europa – wenige Jahre vor der Ausarbeitung der Verfassung in den Abgrund geführt hatte. Unsere Demokratie wurzelt in dieser Geschichte. Es stärkt das „Fundament unserer Demokratie“, wenn wir das bei Debatten über aktuelle und künftige Herausforderungen unserer Gesellschaft immer mitdenken. Beim Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung wird besonders deutlich, wie Geschichte und Gegenwart miteinander verknüpft sind.
Im Rahmen meiner Gedenkstättenreise besichtige ich morgen das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Für Sinti und Roma endete 1945 das Morden, aber nicht die Verfolgung. Die offizielle Rechtsprechung erkannte die Sinti und Roma nicht als Opfer des Nationalsozialismus an. Im Gegenteil: Der Bundesgerichtshof lehnte 1956 Klagen auf Entschädigung für KZ-Haft mit den gleichen herabsetzenden Narrativen ab, die in der NS-Zeit den Boden – erst für Ausgrenzung und dann für Auslöschung – bereitet hatten.
Meine Damen und Herren,
seitdem hat sich viel getan: Sinti und Roma haben sich bessere Chancen erkämpft, indem sie für ihre Sichtbarkeit gekämpft haben. Das steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Erinnerungsarbeit. 1980 traten Angehörige der Sinti auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau in einen Hungerstreik. Erst dieser Protest an einer historischen Stätte der Verfolgung führte dazu, dass die Bundesrepublik den Völkermord an Sinti und Roma 1982 offiziell anerkannte und in der Folge begann, konkrete Lehren aus der Geschichte zu ziehen: Nämlich, die Kontinuität von Diskriminierung und Ausgrenzung zu unterbrechen.
Dieser Prozess braucht die kontinuierliche Erinnerung, um – sowohl die Verfolgungsgeschichte als auch die Ausgrenzung heute – im „kollektiven Gedächtnis“ zu verankern. Im Januar dieses Jahres haben wir als Landtag Sinti und Roma daher in den Mittelpunkt unseres Gedenkens an den Holocaust gerückt. Und ich muss offen gestehen: Mir selbst ist erst in der Vorbereitung auf diesen Gedenktag deutlich geworden, wie weit der Weg zu einer offenen Gesellschaft auf diesem Feld noch ist. Umso mehr begrüße ich, dass das Land – im Rahmen des Staatsvertrags – mit dem Landesverband deutscher Sinti und Roma hier in Heidelberg die Forschungsstelle Antiziganismus mitfinanziert. Auch diese schaut in die Vergangenheit, um damit den Diskurs über Diskriminierung heute voranzutreiben.
Das Land ist darüber hinaus auch im eigenen Hoheitsbereich aktiv: Der Verband deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg wird nun systematisch beteiligt an der Polizeiausbildung. Und auch hier ist Erinnern der Schlüssel zu einem besseren Verständnis. Die Referentinnen und Referenten vermitteln Wissen zu Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma. Sie beschäftigen sich u. a. mit der Frage, worin das gestörte Vertrauensverhältnis vieler Communities zur Polizei wurzelt. Oder, was die tief in der Geschichte wurzelnden Klischees der Mehrheitsgesellschaft sind, die man als angehende Polizistin oder angehender Polizist reflektieren sollte. Auch das belegt: Erinnerung ist das Fundament, auf dem wir Fortschritte für die Zukunft aufbauen.
Wie wir Erinnerungsarbeit verbessern, um dieses Fundament nachhaltig zu stärken, das ist auch die Leitfrage meiner Gedenkstättenreise. Die Herausforderungen sind nicht klein. Wie nutzen wir die Chancen der Digitalisierung, um Quellen und Material den Mediengewohnheiten des Publikums anzupassen? Und vor allem: Wie nutzen wir Digitalisierung, um persönlichen Schicksalen die gleiche emotionale Kraft zu verleihen wie die Begegnung mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen?
Wie können wir greifbar und erlebbar machen, dass es bei Geschichte um Menschen geht, die in unserer Nachbarschaft gelebt und dort Spuren hinterlassen haben? Wie verdeutlichen wir, dass unser Umfeld heute – räumlich wie gesellschaftlich – von Geschichte geprägt ist? Auf all diese Fragen suchen wir Antworten und Best-Practice-Beispiele, von der unsere vielfältige Gedenkstätten-Landschaft insgesamt profitiert.
Darüber hinaus müssen wir uns auch pädagogisch umstellen: Eine Hauptzielgruppe der Gedenkstätten sind Schülerinnen und Schüler. In den Schulen sitzen heute viele Kinder, deren Vorfahren nicht in Deutschland geboren sind. Das erfordert eine andere Ansprache, um über dunkle Kapitel deutscher Geschichte zu reden. Die Haupt- und Ehrenamtlichen – genauso wie die Lehrerinnen und Lehrer – müssen daher neue Wege beschreiten. Ein Weg kann sein, den rassistischen Kern der NS-Ideologie herauszuarbeiten. Das heißt, wenn die Urgroßeltern dieser Schülerinnen und Schüler damals in Deutschland gelebt hätten, wären sie dieser Ideologie sehr wahrscheinlich zum Opfer gefallen.
Erinnerungsarbeit muss die Brücke schlagen ins Heute. Die Brücke schlagen zur Tatsache, dass etwa Artikel 3 Grundgesetz – das Verbot von Benachteiligung aufgrund äußerer Merkmale – ein in Paragrafen gefasstes „Nie wieder“ ist. Diese Verknüpfung verbindet Gedenken mit der Lebensrealität der betroffenen Jugendlichen. Ich glaube, dass man über diesen Hebel, Gedenkkultur in alle Teile der Gesellschaft tragen kann. Zugleich bietet Erinnern auch Anlässe, um etwa auch über Antisemitismus im heutigen Kontext zu sprechen. Das war auch Thema bei den Gedenkstätten-Besuchen heute und in den vergangenen Jahren. Gedenkstätten werden auch von Vorbereitungsklassen für Flüchtlinge besucht. Manche stammen aus Ländern, in denen nicht der Kampf gegen Antisemitismus Teil der Staatsräson ist, sondern der Kampf gegen Israel.
Dazu brauchen die Betreuerinnen und Betreuer vor Ort, brauchen Lehrerinnen und Lehrer Schulung, Unterstützung, Haltung. Auf all diesen Feldern ist die Landeszentrale für politische Bildung bereits aktiv. Sie ist es auch hier – mit ihrer Heidelberger Außenstelle. Die Landeszentrale ist Kooperationspartnerin bei meiner Gedenkstättenreise. Sie ist verlässliche Ansprechpartnerin und Koordinatorin für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstätten im Land. Dafür sage ich herzlichen Dank und begrüße stellvertretend die Direktorin, Frau Sybille Thelen.
Unsere gemeinsame Aufgabe für die Zukunft wird es sein, neue Angebote und Ansätze noch weiter in die Fläche zu bringen, entsprechend dem Bedarf, den die Ehren- und Hauptamtlichen in den Gedenkstätten spüren. Wir sprechen beispielsweise morgen mit Jugendguides in der ehemaligen Synagoge Hemsbach. Also mit jungen Engagierten, die mit Jugendlichen auf Augenhöhe kommunizieren, ihre Lebenswelt kennen und verstehen. Ich bin sehr gespannt auf dieses Konzept.
Dass solche und andere Ideen möglich sind, verdankt das Land den Beschlüssen einer breiten Mehrheit im Landtag. Seit 2011 haben die Abgeordneten fraktionsübergreifend die Mittel für Gedenkstättenarbeit mehr als verzehnfacht. Auch dafür vielen Dank!
Meine Reisen dienen dem Ziel, den Ehren- und Hauptamtlichen zuzuhören, zu erfahren, was sie heute und in Zukunft für ihre so wichtige Arbeit brauchen – finanziell und konzeptionell. Damit sie – und damit wir als Gesellschaft – den roten Faden unserer Gedenkkultur weiterspinnen können.
Meine Damen und Herren,
Erinnerung ist das Fundament unserer Demokratie. Sie ist untrennbar verbunden mit dem Ziel einer offenen und vielfältigen Gesellschaft, für die Sie, liebe Gäste, sich Tag für Tag einsetzen. Wer von unserer Geschichte erzählt, erzählt von unseren Grundwerten: Wo sie herkommen, dass sie nicht selbstverständlich sind, dass wir sie aktiv schützen müssen. Diese Erzählung ist zeitlos und unverzichtbar: Sie weiterzugeben an folgende Generationen, dafür setze ich mich mit aller Kraft ein und hoffe weiterhin auf Ihre Unterstützung.
Vielen Dank!