Interview mit Angelika Wohlfrom im Südkurier

Südkurier, 15. März 2023
Angelika Wohlfrom
„Wir bewegen uns im Schneckentempo“
Warum Muhterem Aras auf das neue Wahlrecht hofft
Müssten Abgeordnete kurzfristig auf Tribüne?
Konstanz/Stuttgart – Der Bundestag soll kleiner werden – der Landtag hingegen dürfte anwachsen: Während auf Bundesebene derzeit heftig über eine Wahlrechtsreform debattiert wird, ist diese im baden-württembergischen Landtag bereits beschlossen. Ab 2026 soll es auch im Land ein Zwei-Stimmen-Wahlrecht geben – mit möglicherweise ähnlichen Auswirkungen auf die Zahl der Abgeordneten, mit denen der Bund zu kämpfen hat. Aus vorgesehenen 120 Abgeordneten könnten durch Ausgleichs- und Überhangmandate zwischen 170 und 210 werden, so rechnet Wahlrechtsexperte Joachim Behnke vor.
Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) bekennt sich trotzdem zur Wahlrechtsreform. „Fakt ist, dass unser Parlament derzeit die Gesellschaft nicht wirklich abbildet. Mit der Wahlrechtsreform besteht die Chance, dass wir weiblicher, jünger und diverser werden“, sagt die 57-Jährige beim SÜDKURIER-Redaktionsgespräch. Was die Beteiligung von Frauen angeht, ist Baden-Württemberg mit 29,9 Prozent im unteren Drittel im Bundesländervergleich. 1988, erinnert Aras, seien es noch 8,8 Prozent gewesen. „Seither bewegen wir uns im Schneckentempo.“ Für sie steht fest: „Auf freiwilliger Basis wird da wenig passieren, die Parteien brauchen den Druck von außen.“
Garantiert ist eine bessere Durchmischung des Kandidatenfelds mit dem neuen Wahlrecht nicht. Es liegt dann in der Hand der Parteien, über die Zweitstimme mehr Frauen, jüngere Leute, Menschen mit Migrationshintergrund, mit anderer sexueller Orientierung oder auch Menschen mit Behinderung zu positionieren. Wenig Vielfalt weisen die Parlamente auch bei den Berufen auf. Das Handwerk, Pflegeberufe oder Bauern sind in der Minderheit, es dominieren Juristen und Beamte.
Erst vor ein paar Jahren saniert
Noch zweifelt Aras daran, dass es wirklich zum XXL-Landtag kommt. „Dass er auf 200 Abgeordnete anwachsen könnte, ist reine Spekulation.“ Sie verweist auf die Erfahrungen anderer Bundesländer: In Rheinland-Pfalz und in Mecklenburg-Vorpommern habe die Wahlrechtsreform nicht zu mehr Abgeordneten geführt. Tatsache ist: Wenn es so kommt, müsste man baulich eingreifen in das denkmalgeschützte Landtagsgebäude und den Plenarsaal, der erst von 2013-16 saniert wurde. Ausgelegt ist er auf maximal 160 Abgeordnete. Sprich: Für sechs Pulte mehr als aktuell wäre noch Platz, mehr nicht. „Alles, was darüber hinausgeht, würde uns vor Herausforderungen stellen“, so Aras.
Einen Teil der Abgeordneten auf die Besuchertribüne zu setzen, wäre eine kurzfristige Lösung, aber nach Aras’ Ansicht keine gute. Denn diese sollte weiter für Besuchergruppen zur Verfügung stehen. Wenn nicht alle Abgeordneten zusammensitzen, wirke sich das außerdem negativ auf die Debattenkultur aus – „das haben wir während der Pandemie erlebt“. Zuständig für das Gebäude ist die Abteilung Vermögen und Bauen, das beim Finanzministerium angesiedelt ist.
Wegen fehlender Abgeordnetenbüros hat die Chefin des Landtags hingegen weniger Bedenken: Wenn Abgeordnete zunehmend im Homeoffice arbeiteten, könnten die bestehenden Büroflächen ihrer Ansicht nach ausreichen. Bislang verfügt jeder Abgeordnete allerdings über ein eigenes Büro, in dem auch die Mitarbeiter sitzen.
Die Kosten für den Landtag liegen laut Aras in Baden-Württemberg im Moment bei 10,10 Euro pro Einwohner und Jahr. Zum Vergleich: Im Durchschnitt der Bundesländer (ohne Hamburg und Bremen) sind es 18,33 Euro. In Baden-Württemberg kommen 73 000 Einwohner auf einen Abgeordneten. Im Bundesschnitt sind es 42 000. „Auch daran sieht man, dass der Landtag nicht überdimensioniert ist“, sagt Aras, die zugleich einräumt, dass mehr Abgeordnete nicht automatisch auch bessere Arbeit bedeuten. Die Bürgernähe, die durch kleinere Wahlkreise möglich sei, hält sie hingegen für besonders wichtig in Zeiten von Fake-News.
Argument Nummer eins für die Wahlrechtsreform aber ist für sie die davon erhoffte bessere Durchmischung: Dafür habe sich der Landesfrauenrat, der 50 Verbände und damit 2 Millionen Frauen im Land vertritt, jahrelang eingesetzt. Aras: „Es könnte sein, dass der Landtag am Ende mehr kostet, aber das muss es uns wert sein.“
Um den XXL-Landtag abzuwenden, hat die FDP eine Reduzierung der Wahlkreise vorgeschlagen und ist damit an der Regierungskoalition gescheitert. Die Abgeordneten von Grünen, CDU und SPD stimmten kürzlich gegen einen entsprechenden Antrag der FDP. Die AfD enthielt sich. Jetzt versuchen die Liberalen ihr Anliegen mithilfe eines Volksbegehrens durchzukriegen. „Das ist das gute Recht der FDP. Wenn es so kommt, muss man damit entsprechend umgehen“, sagt Aras.
Zweifel an den Ampel-Plänen
Interessanterweise teilt Aras bei der von der Ampel-Koalition angestrebten Wahlrechtsreform im Bund nicht die Linie der Bundes-Grünen. Die Ampel-Pläne stehen bei Union und der Linken in der Kritik. Beide Parteien müssen mit deutlichen Einbußen rechnen. Besonders die CSU, aber auch die CDU in Baden-Württemberg, dürfte etliche Direktmandate verlieren, weil die Union in den beiden südlichen Bundesländern traditionell deutlich mehr Wahlkreise direkt gewinnt als Zweitstimmen. Die grüne Landtagspräsidentin kann die Bedenken gut nachvollziehen: „Ehrlich gesagt finde ich es schwer vermittelbar, dass jemand, der die meisten Stimmen im Wahlkreis erhält, dann nicht im Bundestag sitzen soll.“ Sie sei gespannt, ob diese Reform der verfassungsrechtlichen Überprüfung standhalte.
Beim Koalitionspartner im Südwesten dürfte das gut ankommen. Die Reform stelle „im Grunde genommen auch eine Schwächung des Südens“ dar, sagte der CDU-Landeschef Thomas Strobl gestern: „Das ist eine Reform, die der Demokratie mehr schadet als sie der Demokratie nützt.“
Aras in Konstanz
Die Landtagspräsidentin kommt kommenden Mittwoch, 22. März 2023, nach Konstanz. Im Konzil will sie ab 18.30 Uhr mit ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam, Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee, und Isabelle Lindenfelser von Fridays for Future Konstanz über Leben und Wirtschaften in Anbetracht der Klimakrise sprechen. „Wertsachen“ heißt die Veranstaltungsreihe, mit der Aras im Südwesten unterwegs ist, und bei der sie sich immer einen anderen Grundgesetzartikel vornimmt und den vor dem aktuellen Hintergrund diskutiert. Anmeldung unter veranstaltungen@landtag-bw.de. Die Veranstaltung wird auch per Livestream übertragen, unter: www.landtag-bw.de. (sk)
© 2023 Medienhaus SÜDKURIER GmbH. Die Texte sind Teil des kostenpflichtigen Angebots für Abonnentinnen und Abonnenten.