27. Januar 2021

Rede zum Gedenktag am 27. Januar 2021 im Landtag

Liebe Gäste, ich begrüße Sie herzlich aus dem Landtag von Baden-Württemberg.
 
Normalerweise säßen Sie und ich jetzt gemeinsam im Plenarsaal und wir würden den Musikern applaudieren. 

Der diesjährige Tag zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ist anders. 

Aufgrund der Regeln zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sind wir an verschiedenen Orten. Aber unsere Gedanken sind gemeinsam bei denjenigen, die dem Terror der NS-Herrschaft zum Opfer fielen. Bei denjenigen, denen die menschenverachtende völkische Ideologie die Menschenwürde absprach, weil sie eine andere Herkunft hatten, anders glaubten, lebten, dachten oder liebten. Unsere Gedanken sind bei denjenigen, die sich wehrten gegen den Zivilisationsbruch der Täter und der Mitläufer.

Ich möchte Ihnen dazu die Geschichte von Anna Denz erzählen. Oder besser gesagt: Ich bitte Sie, sich in ihr Leben hinein zu versetzen. In das Leben einer Schülerin im badischen Lörrach, Mitte der 30er Jahre.

Stellen Sie sich vor, Sie wären damals zur Schule gegangen: Hätten Sie sich als einzige oder einziger Ihrer Klasse geweigert, der Hitlerjugend oder dem Bund deutscher Mädel beizutreten? Hätten Sie die Hakenkreuz-Fahne zum Schulappell ignoriert? Hätten Sie sich im Alltag geweigert, den Hitler-Gruß auszusprechen? All das unter der Gefahr, dass der Staat Ihnen Mutter und Vater nimmt und Sie weit  weg vom Elternhaus in eine Umerziehung zwingt? 

Wir können uns heute nur schwer den Druck vorstellen, der auf einer 15-Jährigen im Jahr 1938 lastete, die sich dem Nationalsozialismus nicht beugen wollte. Wir können heute nur schwer die Gefahr nachfühlen, der sich Anna und ihre Eltern durch den Schmuggel verbotener Schriften aussetzten. Wir können uns nur schwer ausmalen, wie viel Kraft eine Jugendliche brauchte, um nach Auffliegen des Schmuggels ein Verhör durch die Gestapo durchzustehen. Ein Verhör, bei dem mehrere Beamte durch Drohung mit dem KZ belastende Aussagen erpressen wollten. 

Anna Denz hatte den Mut, sich zu widersetzen. Sie schöpfte die Kraft dafür aus ihrem Glauben. Anna Denz und ihre Eltern waren Zeugen Jehovas. Ihre Glaubensgemeinschaft hat den Nationalsozialismus konsequent abgelehnt. 
Die NS-Ideologie interpretierten die Zeugen Jehovas als eine – Zitat – „Herrschaft des Teufels auf Erden“. Ihre grundsätzliche Distanz gegenüber weltlicher Macht, vor allem aber ihr Postulat von der Gleichheit aller Menschen und ihr Pazifismus waren mit der Nazi-Diktatur nicht vereinbar. 

Sehr viele der etwa 25.000 Zeugen Jehovas im damaligen Deutschen Reich saßen daher - zumindest zeitweise - aufgrund ihres Glaubens in Haft. Auch die Eltern von Anna Denz wurden in Konzentrationslager deportiert, gekennzeichnet durch einen lila Winkel. Unser heutiger Gedenktag erinnert an ihr Schicksal und das ihrer Glaubensgeschwister. 

An der Organisation unseres Gedenktags sind Vertreterinnen und Vertreter aller Opfergruppen beteiligt. Jedes Gedenken bereiten wir gemeinsam vor. Immer denken wir dabei an alle Opfer des Nationalsozialismus. Wir stellen aber jedes Jahr eine Opfergruppe in den Mittelpunkt unseres gemeinsamen Erinnerns. 

Ich danke allen Beteiligten für diese Zusammenarbeit. 

Namentlich den israelitischen Religionsgemeinschaften Württemberg und Baden, dem Landesverband der Sinti und Roma, dem Verein Weißenburg e.V., dem Verein der Verfolgten des Naziregimes, dem Bund der Jenischen in Deutschland. Und dieses Jahr besonders der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. 
Als ihr Vertreter wird Herr Slupina zu uns sprechen. Außerdem zeigen wir einen Film von Mara und Finn Kemper aus Ditzingen, die eine Zeitzeugin besucht und interviewt haben.

Dass wir eine Gruppe besonders in den Blick nehmen, lenkt unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf deren Geschichte und Geschichten - sondern auch auf die Frage, ob und wie wir uns an sie erinnern.
Diese zweite Geschichte - die Geschichte der Aufarbeitung - ist ein Reifeprozess unserer Demokratie: Von Verdrängen und Verschweigen hin zu offensiver Auseinandersetzung. Dieser Prozess ist nach wie vor nicht abgeschlossen. 

Ich erinnere mich gut an den Gedenktag vor zwei Jahren. Damals standen Homosexuelle im Fokus. Joachim Stein als Vertreter der Opfergruppe verwies in seiner Ansprache auf eine Untersuchung aktueller Schulbücher in Baden-Württemberg. 
Im Geschichtsbuch wird der Holocaust ausführlich behandelt. Zu nahezu allen Opfergruppen erzählt es persönliche Verfolgungsgeschichten, um den Schülerinnen und Schülern deren Schicksal nahe zu bringen.

Die zwei Opfergruppen, bei denen nichts hinterlegt ist, sind Homosexuelle und Zeugen Jehovas. Noch 2016 – in diesem Jahr trat der aktuelle Bildungsplan in Kraft - klafften bei den Schulbuchverlagen und dem zuständigen Kultusministerium Lücken. Unser Gedenktag vor zwei Jahren hat einen Impuls gesetzt, diese blinden Flecken auszuleuchten. 

Das Wissenschaftsministerium hat inzwischen Mittel bereitgestellt für weitere Forschung. Konkret zu lesbischen Lebenswelten im deutschen Südwesten von den 1920er bis in die 60er Jahre. Vom heutigen Gedenktag erhoffe ich mir einen vergleichbaren Impuls. 

Die Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas ist zwar recht gut dokumentiert. Sie werden es anhand des folgenden Fachvortrags von Herrn Dr. Hesse feststellen. Aber sie ist nur schwach im öffentlichen Bewusstsein verankert.

Die Geschichte von Anna Denz findet sich in der wissenschaftlichen Fachpublikation, nicht aber in Unterrichtsmaterialien. Offenbar fällt es uns als Gesellschaft nicht leicht, die Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas vorbehaltlos anzunehmen – sie anzunehmen ungeachtet der Kontroversen um manche Haltung der Glaubensgemeinschaft. Ich meine: Gedenken heißt, das große Bild in den Blick zu nehmen. Machen wir uns bewusst, wie Geschichte unser „Heute“ prägt. Und welche Rolle die Verfolgung auch der Zeugen Jehovas dabei spielt. Die Werte und Normen unseres Grundgesetzes sind in vielerlei Hinsicht historische Lehren aus dem Zivilisationsbruch der Nazis.
 
Unsere Verfassung ist ein in Artikel gegossenes „Nie Wieder“. Sie garantiert in Artikel 4 eine weitgehende Religionsfreiheit. Und das meint alle Glaubensgemeinschaften, solange sie nicht andere von der Verfassung geschützte Werte angreifen. Der Staat ist heute zu einer fördernden Neutralität gegenüber der Religionsausübung der Bürgerinnen und Bürger verpflichtet. 
Das ist auch eine Folge der Verfolgung von Gläubigen durch die Nazis – die auf christlicher Seite die Zeugen Jehovas mit am härtesten traf.

Ein weiterer Grund für ihre Verfolgung war ihre konsequente Ablehnung von Krieg. Unsere Verfassung schreibt heute fest: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Das ist das Erbe der Menschen, die aufgrund ihrer Gewissensentscheidung von den Nazis als so genannte Wehrkraft-Zersetzer hingerichtet wurden. Sehr viele davon waren Zeugen Jehovas.
Wenn wir unsere Grundwerte und die Prinzipien unseres Rechtsstaates verstehen und stärken wollen, müssen wir uns dieses Erbe bewusstmachen. Dazu müssen wir die Geschichten der Opfer erzählen.

Die Mutter von Anna Denz starb im Konzentrationslager Ravensbrück. Entkräftet und krank nach einem Hunger- und Dunkelarrest. Sie hatte sich geweigert, Ausrüstung für die Wehrmacht herzustellen. Der Vater von Anna Denz wurde im KZ Mauthausen mit einer Spritze ins Herz ermordet – nach Menschenversuchen mit dem Tuberkulose-Erreger. Anna Denz hat überlebt. Für den Fall der Fälle hatten ihre Eltern nicht allein auf Gott vertraut, sondern auch auf ihre Gemeinschaft. 

Nachdem Mutter und Vater verhaftet waren, verhalf ein Glaubensbruder Anna zur Flucht in die Schweiz. Die dortigen Zeugen Jehovas kümmerten sich um ihr Wohlergehen und halfen bei der späteren Emigration in die Vereinigten Staaten. Das Trauma des Verlustes der Eltern und ein jahrelanger Rechtsstreit um Wiedergutmachung nach dem Krieg haben Anna Denz nicht abgehalten, ein erfülltes Leben zu führen.

Viele Zeugen Jehovas sahen sich nicht als Opfer des NS-Regimes. Sondern sie betrachteten sich als Sieger in der offensiv geführten Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Und in dieser Haltung können sie uns heute Vorbild sein für die Auseinandersetzung mit Hass, Ausgrenzung und der Gefahr rechtsextremer Gewalt.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit. 

Liebe Gäste,
danke, dass Sie dabei waren. Der Tag hat gezeigt: Gedenken ist zeitlos und wichtig. Ich danke allen Beteiligten, die es virtuell möglich gemacht haben.
Den Menschen hinter den Kulissen, die den Tag vorbereitet und umgesetzt haben. Den Musikerinnen und Musikern: Aaron Weiss am Klavier, Anamaria Tesei an der Violine, Marco Tesei am Kontrabass sowie dem Chor. Ich danke Herrn Dr. Hesse und Herrn Slupina für Ihre Ansprachen. 
Sie haben uns vor Augen geführt: GE-Denken an das, was war, muss immer auch ein NACH-Denken sein über das, was ist und kommt.
Lehren für Gegenwart und Zukunft sind der Kern von Erinnerung. Danke, dass Sie dabei waren.